Die „Modernisierung“ der Groko-Parteien

Bei Tichy war vor wenigen Tagen eine Grafik zu finden, die die altersbedingten Parteipräferenzen zeigte. CDU und SPD leiden an Überalterung ihrer Anhänger, bei jeder Wahl sind seit dem letzten Mal fast zwei Millionen Anhänger gestorben, ohne daß eine adäquate Zahl von Wählern nachwächst. 39 Prozent der Unionswähler und 24 Prozent der SPD-Wähler sind über 65 Jahre alt, während über alle Alterskohorten 29 % der CDU zuzuordnen sind, 18 % der SPD.

Der typische CDU- und SPD-Wähler ist zu einer Zeit sozialisiert worden, wo die Medien noch Klassenkampf gepredigt haben, wo im Fernsehen noch über Lohnkämpfe, Streiks und Tarifverhandlungen berichtet wurde, wo Minderheitenprobleme noch in kleinen Unigruppen diskutiert worden sind. Wo die SPD mit den Hartz-Gesetzen noch gegen den Anstieg der Lohnnebenkosten kämpfte und die CDU behauptete, daß die Rente sicher sei. Die Altwähler identifizieren die Parteien immer noch an diesen Maßstäben, obwohl die Zeit eins, zwei drei im Sauseschritt über diese Themen hinweggegangen ist. Der alte Markenkern erschließt sich jüngeren Wählern nicht mehr, und ein neues Image, welches von den Grünen und Linken unterscheidbar ist, gibt es nicht. Das sind ideale Bedingungen für Schrumpfungsprozesse.

Das fordert geradezu einen Vergleich mit der Weimarer Republik heraus, wo bei Konservativen, SPD und Zentrum dieselbe Auszehrung durch fehlenden Nachwuchs herrschte.

Eric J. Hobsbawn hat in sein Buch „Das imperiale Zeitalter 1875 – 1914“ eine Statistik aus dem Dictionary of Modern Thougt von 1977 eingefügt, aus der hervorgeht, dass 45 % der im Wörterbuch gelisteten „modernen“ Denker von 1880 bis 1914 volljährig oder aktiv tätig waren. Die 1900 bis 1914 geborenen, die 1933 zwischen 17 und 33 Jahre alt waren und in der Weimarer Republik geprägt wurden, machen nach dieser Aufstellung dagegen nur 17 % aus, die vor 1880 sozialisierten „modernen“ Denker aus der Sattelzeit wie beispielsweise Karl Marx oder Arthur Schopenhauer machen nur 15 % aus. Das sogenannte „moderne“ Denken der Neuzeit wurde wesentlich durch Personen geprägt, die dem Reformismus des Kaiserreichs verfallen waren. Fast alle nationalsozialistischen Promis waren 1890 bis 1914 geboren worden, also mitten in der grünbraunen Lebensreform.

Die später Geborenen wurden nur selten überzeugte Nazis. Im Gegenteil: Ab den späten 30er Jahren hörte die Jugend den verpönten Swing, der große Run auf den NS-Studentenbund war vorbei. Mein Vater war Jahrgang 1917. Ihm ging die ganze Lebensreform am Arsch vorbei, seinen beiden Brüdern auch. Nur meine beiden Großväter waren generationstypisch in NSDAP bzw. SED organisiert.

Schauen wir doch einmal auf die ideologischen Hauptströmungen der Weimarer Republik: Ergebnis der Reichstagswahlen 1919 bis 1933 sortiert und gerundet:

Deutschland      1919   1920   1924   1924   1928   1930   1932   1932   1933

SPD                     38        22       21       26       30        25      22       20       18

Linkselitaristen      8        20       13         9       11        13      15       17        12

„Liberale“            23        22       15       17       14          9        2         3          2

Rechtselitaristen   0          0         7         3         5        21      38      33        44

Konservative       10        15       20       24       20        12        6        9          8

Bauern                  1           1         3         1         4         3        1        1          1

Christliche           20        18        17       17       15       17      17      16        15

Dabei wurden die Schubladen wie folgt gefüllt: Linkselitaristen: USPD, KPD; gemäßigte Reformisten, also „Liberale“: DDP, DVP; völkische Elitaristen: NSDAP, DVFP, DAP, DSP, Landvolk u.a.; Konservative: DNVP, Wirtschaftspartei, Volksrechtspartei; Bauern und Regionale: Landbünde, Bayrischer Bauernbund, Welfenpartei u.a.; Christliche: Zentrum, BVP, CSVd;

Am interessantesten ist natürlich die Altersstruktur der Wähler, da es sich bei der Machtergreifung Adolf Hitlers um den Sieg einer Jugendbewegung handelte. Von der Lebensreform beeinflußt waren folgende Minder- bzw. Mehrheiten im Vergleich mit der Alterstruktur:

Deutschland        1919   1920   1924   1924   1928   1930   1932   1932   1933

Reformisten            31      42       36       28       30        45      55        53      58

nach 1890 geboren  20     22       32      33        43       48       52       53       55

Von der Lebensreform beeinflußt: DDP, DVP, NSDAP, DVFP, DAP, DSP, Landvolk, USPD, KPD, teilweise auch die Landbünde

Es gab einen überaus engen Zusammenhang zwischen dem Geburtsjahr der Wählenden und der Wahlentscheidung. Was an Biografien immer wieder auffällt: dass die nach 1890 bis 1914 Geborenen anfällig für die Gewaltsphantasien des 20. Jahrhunderts waren, und den Freiheitsidealen des 19. Jahrhunderts sehr kritisch, um nicht zu sagen ablehnend gegenüberstanden. Das manifestierte sich natürlich auch an der Wahlurne.

Der Sieg der NSDAP basierte vorrangig auf dem Aufsaugen des politischen Reformlagers und war damit das Moment einer endlich auch politisch umgesetzten Lebens- und Gesellschaftsreform, die nach dreißig Jahren populär ab- und zurechtgeschliffen die Massen ergriff. Nicht alle begriffen Hitlers Sieg so: der Sozialdemokrat Julius Leber meinte hochnäsig, er warte wie alle Welt darauf, endlich die geistigen Grundlagen dieser Bewegung zu erfahren. Diese Grundlagen lagen seit 40 Jahren auf der Hand, man hätte nur in eine Buchhandlung gehen müssen, oder in eine andere Zeitung hereinsehen müssen, als in den „Vorwärts“. So wie einige Genossen nur die Aktuelle Kamera, die Tagesschau, die Tagesthemen, Heute und den Schwarzen Kanal gesehen hatten, und vom Ende der DDR überrascht wurden, so hatte Leber nichts von der Jugendbewegung und nichts von der Lebensreform, nichts vom Biologismus und nichts vom Rassismus, nichts von der Romantik, nichts von Dostojewski, nichts von Thomas Mann, nichts von Hermann Hesse, nichts von Friedrich Nietzsche und nichts von der deutschen Planwirtschaft mitbekommen.

Die Väter der Weimarer Verfassung waren Großväter. Alle waren aus der gefährlichen Pubertät längst raus, als die Reformbewegung ihren Lauf nahm, viele waren schon fertige Erwachsene. Im Jahr 1900, als der Jugendstil gerade seinen Siegeszug begann, hatten die wichtigsten Politiker der Weimarer Republik folgendes Alter: Konstantin Fehrenbach 48, Hugo Preuß 40, Hugo Haase 37, Wilhelm Marx 37, Philipp Scheidemann 35, Hans von Seeckt 34, Wilhelm Groener 33, Gustav Bauer 30, Friedrich Ebert 29, Otto Wels 27, Matthias Erzberger 25, Otto Geßler 25, Wilhelm Cuno 24, Hermann Müller 24, Gustav Stresemann 22, Gustav Radbruch 22 und Hans Luther 21. Und der Methusalem von allen, Hindenburg, war 52 Jahre alt, als zur Jahrhundertwende die Sektkorken knallten. Wie sollten diejenigen, die 1900 älter als 25 waren die Reformbewegung verkörpern? Sie wurden eher von Fürst Bismarck und August Bebel geprägt, als von Wilhelm II. oder Friedrich Nietzsche. Die Reform mußte noch warten, bis ihr Personal ministrabel wurde. Aber die neue Generation wuchs heran. Das Personal der Nationalsozialisten war 1900 wesentlich jünger: Streicher 15, Hitler 11, Göring 7, Goebbels 3, Höß und Frank noch nicht geboren.

Wenn man 1920 als Basis nimmt und analysiert, aus welchen Milieus die 44 % nationalsozialistischen Wähler deutschlandweit herkamen ergibt sich folgendes Bild.

Zugewinn von gemäßigten Reformisten („Liberalen“) ca. 20 %
Zugewinn von Linkselitaristen ca. 8 %
Zugewinn von Konservativen ca. 7 %
Zugewinn von Sozialdemokraten ca. 4 %
Zugewinn von Christlichen ca. 3 %
Zugewinn von Bauern und Regionalen ca. 1 %

Das Fazit: Wenn der Zeitgeist wechselt, wenn die Pseudoeliten über Medien und Kulturbetrieb neue Ziel setzen, kommen die Altparteien unter Druck. Im Spätkaiserreich und in der Weimarer Republik wurde der Rationalismus des 19. Jahrhunderts geschrottet, Demokratie- und Technikfeindlichkeit machte sich breit, vom blonden Übermenschen wurde geschwärmt, Karl Marx und der Liebe Gott galten als Schnee von gestern. Damit auch die SPD und das Zentrum.

Von 1968 bis etwa 2010 beobachteten wir etwa dasselbe, nur daß der Übermensch inzwischen schwarz und moslemisch ist, seit der revolutionäre Proletarier zur Seite gelegt wurde und der blonde Germane sich in den Weiten Rußlands totgelaufen hat. Alles wiederholt sich.

Seit etwa 2010 hat die Gegenbewegung eingesetzt. 2010 kann man etwa mit 1935 vergleichen. Das Pendel schlägt zurück zu bürgerlicher Kultur und das systematische Erkennen wird langsam wieder modern. Gegen primitive Klimareligion und archaische Clankultur regt sich erster Widerstand. Im Parteiensystem bildet sich das mit der AfD ab, vielleicht auch bald mit anderen Parteien. Selbst Wagenknechts geplante Linksbewegung wirkt aufgeklärter als die beiden Regierungsparteien. Merkel springt seit einem Jahrzehnt auf den reformistischen Zug auf, der zum Abstellgleis unterwegs ist und nennt das „Modernisierung“. Welch Irrtum!