Wie man Polen zu Antisemiten macht

Unter der Überschrift: „Als Juden in Polen nicht mehr erwünscht waren“ behauptete der Warschau-Korrespondent der WELT, Philipp Fritz, 1968 habe Polens kommunistische Partei eine antisemitische Kampagne losgetreten.

Nun müßte man als Hauptstadtkorrespondent eigentlich elementare geschichtliche Kenntnisse vom jeweiligen Land haben und mal bedenken, daß Polen bis 1990 keineswegs souverän über seine Außen- und Innenpolitik bestimmen konnte. Auch die dortige Kommunistische Partei nicht. Und daß die Bürger nicht wählen konnten, wer sie verwaltet. Man muß sich mal in die damalige Situation hereindenken. In eine Situation, in der zwei sowjetische Divisionen zwischen Oder und Bug stationiert waren. Die Westmächte hatten Osteuropa in Jalta verraten.

Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und die DDR waren staatliche Zombies, die man als Protektorate oder Vasallenfürstentümer bezeichnen kann. Die Regierenden waren bestenfalls Satrapen, Statthalter oder Kollaborateure. Alles mögliche kann man ihnen vorwerfen: Volksverräter gewesen zu sein, sich mäßig bereichert zu haben oder unfähig gewesen zu sein. Nicht jedoch wirkliche Macht ausgeübt zu haben. Sie mußten ängstlich auf jedes Hüsteln im Kreml achten und täglich die Prawda lesen, um die aktuelle politische Linie zu kennen.

Der Ostexperte Wolfgang Seiffert, der als Politikprofessor nacheinander in beiden Systemen – Ost und West – herumturnte, hatte Anfang der achtziger Jahre darüber im SPIEGEL geschrieben: „Diese Stationierung sowjetischer Truppen in Polen ebenso wie die Einbindung der polnischen Streitkräfte in die Organisation des Warschauer Paktes ist von Bedeutung für den Druck Moskaus auf die polnische Führung (…). Über die Möglichkeiten eines Einsatzes dieser Truppen, einer Vergrößerung ihrer Zahl und militärischen Schlagkraft hinaus liefert sie immer wieder Vorwände, um mit dem Argument der Gefährdung der Sicherheit dieser Truppen und deren formeller Funktion Warschau zu Maßnahmen zu drängen, welche die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ garantieren sollen.“

Woraus speisten sich 1967/68 diese Bedürfnisse nach „Sicherheit und Ordnung“? Es waren zwei Ereignisse, die weltpolitische Bedeutung hatten. Zum einen der Sechstagekrieg, der 1967 als offene Konfrontation zwischen der Sowjetunion mit ihren arabischen Satelliten einerseits und Israel andererseits zu einer desaströsen Niederlage Moskaus führte. Die russisch instruierten Truppen auf dem Sinai wurden binnen weniger Stunden regelrecht aufgerieben und zerlegt. Schon deshalb hatte man in Moskau eine Stinkwut auf Israel im besonderen und auf die Juden im allgemeinen. Die Beziehungen zu Israel wurden abgebrochen, die sog. „DDR“, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei und Bulgarien mußten sich anschließen.

Dazu kamen aber noch lokale Unbotmäßigkeiten, die dazu führten, daß die sowjetische Schraube stärker angezogen wurde. Es war der Prager Frühling, der mit einer Militärintervention beendet wurde, und es waren zudem Unruhen an polnischen Universitäten.

Diese Fragilität habe ich in der Zone abgeschwächt auch erlebt. In den Zeitungen, im Ostfernsehen und in den Schulen lief eine antijüdische und antiisraelische Propaganda, obwohl es in der sog. „DDR“ so gut wie keine Juden gab.

Der Prager Frühling war der Auslöser den moskowitischen Druck auf die „Bruderländer“ noch einmal zu verstärken. Gerade 1968 war es ausgeschlossen, daß irgendeine polnische, pankower oder ungarische Führung ohne den Ukas Moskaus Juden rausschmeißen konnte. Und ab September auch keine tschechoslowakische. Da in allen diesen Satelliten gleichzeitig antisemitische Kampagnen liefen, ist eigentlich klar, woher der Wind wehte. Ist es etwa Zufall, daß die Karriere der jüdischen Hilde Benjamin (der Bluthilde) als Zonen-Justizminister ausgerechnet am 2. Juli 1967 aprupt abbrach? Der Sechstagekrieg war wenige Tage vorher am 10. Juni 1967 zu Ende gegangen. Ihre Absetzung ohne Zusammenhang mit der Weltpolitik? Da lachen ja die Hühner! Wohl eher gab es einen dezenten Hinweis an Ulbricht aus dem Kreml. Damals wurde selbst dem niedersten Abgesandten des sowjetischen Generalsekretärs der Steigbügel geküßt und jeder Wink devot beachtet.

Im Ostberliner Stadtbezirk Mitte in der Alexanderstraße wohnte die jüdische Familie Brasch. Sie bestand aus dem stellvertretenden Kulturminister Horst Brasch als Vater, der Mutter Gerda Brasch, den Söhnen Thomas, Klaus und Peter und der Tochter Marion. Der älteste Sohn Thomas hatte 1968 als 23Jähriger gegen den Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei protestiert und wurde verhaftet. In der Schule des jüngsten Bruders Peter, der Ernst-Wildangel-Schule in Ostberlin, gingen an den folgenden Tagen wildeste Gerüchte über einen von den Juden inszenierten Bombenanschlag um, obwohl in der Tat nur Flugblätter verteilt worden waren. Behauptungen ohne jeglichen Zusammenhang mit der Realität. Natürlich kann man heute nicht feststellen, wer sie gestreut hat. Der Vater wurde von seinem Job als Kulturfunktionär suspendiert und 1971 mußte die ganze Familie nach Karl-Marx-Stadt – der Stadt mit drei O – umsiedeln. Das war aus der Ostberliner Perspektive wie eine Verbannung nach Sibirien. Mit den Ostberliner Sonderrationen an Lebensmitteln, Kleidung und Industriewaren hatte es sich erst mal. Manche Ostberliner sagten, wenn sie mit der S-Bahn nach Königs-Wusterhausen fuhren: „Wir fahren in die DDR“.

In einem von IM „Victoria“ (Klarname von Kahane) stammenden Bericht heißt es 1976 über einen Kreis von Schriftstellern und Schauspielern: „Zu den Feinden der DDR gehören in erster Linie Klaus Brasch und Thomas Brasch.“ Klaus Brasch war als Schauspieler relativ bekannt. Er hatte in populären Filmen wie „Jakob der Lügner“ und „Solo Sunny“ mitgespielt. Ihn als Staatsfeind erster Klasse zu denunzieren war krass neben der Uhr. Sein großer Bruder Thomas protestierte 1976 wie viele andere sogenannte „Kulturschaffende“ gegen die Ausbürgerung des Ostberliner Sängers Wolf Biermann. Brasch stellte einen Ausreiseantrag, dem umgehend stattgegen wurde. Wenn er wirklich ein Staatsfeind gewesen wäre, hätte er jahrelang auf die Ausreise warten müssen. Schnelle Ausreisen kamen immer dann zustande, wenn Familienpeinlichkeiten von Funktionären „in Ordnung gebracht“ werden mußten.

Auch in der Tschechoslowakei gab es zeitgleich antisemitische Kampagnen. Von den 1968 noch dort wohnhaften 15.000 Juden wurden 4.000 in die Emigration getrieben.
Polen oder der Tschechoslowakei die Schuld für die Ausweisung bzw. Flucht der Juden anzudichten ist wüste Geschichtsklitterung. Die damaligen Machtverhältnisse haben es nicht zugelassen, daß etwas von dieser internationalen Tragweite in Warschau, Ostberlin oder Prag entschieden werden konnte.

„Die Juden waren am Prager Reform-Frühling schuld — das entdeckte Prags Staatspartei zweieinhalb Jahre nach der sowjetischen Intervention.“ Das berichtete der SPIEGEL 1971. „Dunkle Kräfte, so das ZK in einem jetzt veröffentlichten Dokument (…), hatten das Partei-Regime „von den Positionen des Zionismus aus“ unterminiert. In letzter Stunde retteten die Sowjetpanzer die Tschechoslowaken vor einem drohenden Staatsstreich im Zeichen des Davidsterns, lautet die neue Version.“ Wenn man das liest, hört man die Nachtigal trapsen, wie der Berliner sagen.

Hier zur Klarstellung noch die Zeittafel:
Juni 1967 Sechstagekrieg
Danach Abbruch diplomatischer Beziehungen zu Israel durch Sowjetunion, „DDR“, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Bulgarien. Absetzung der Justizministerin Benjamin,
4. Januar 1968 Wahl von Dubcek zum tschechoslowakischen Parteisekretär
8. März 1968 Studentenproteste in Polen
21.März 1968 sowjetische Drohungen gegen Prag
5. April 1968 Aktionsprogramm der KPC mit angesagten Reformen
15. Juli 1968 Breshneff-Doktrin von der begrenzten Souveränität der Satelliten
21. August 1968 Einmarsch in der Tschechoslowakei

Die WELT führt seit geraumer Zeit einen dämlichen, dümmlichen Propagandakrieg gegen Polen, ihr Korrespondent Fritz wurde erst 1987 geboren, hat die Zeit über die er berichtete, nicht selbst erlebt. Aber bewahrt ihn das vor der Pein der Recherche? Mit seinem bruchstückhaften Geschichtswissen hätte er in den 70ern nicht einmal die Toiletten der Pressehäuser mit seiner Zahnbürste putzen dürfen.

Die Intention seines Eintrags ist deutlich. Es ist seit Jahresanfang schon der zweite polenfeindliche Artikel mit dem Thema Antisemitismus nach 1968, der Haß und Ressentiments gegen unser Nachbarvolk schüren soll. Es wäre fair, wenn man den Polen keine in der Zeit von 1772 bis 1918 sowie von 1939 bis 1990 irgendwie gearteten Verbrechen vorwirft. Denn ihre Verantwortung in diesen Perioden ist Nullkommanull. Sicher haben sich irgendwelche Volksverräter vor den sowjetischen Karren spannen lassen, die waren vom polnischen Volk jedoch nie legitimiert.

Die Headline „Als Juden in Polen nicht mehr erwünscht waren“ schürt Haß sowie Rassismus und ist irreführende Hetze. Richtig würde die Schlagzeile heißen: „Als die Steigbügelhalter des Sowjetimperialismus die Juden ausschafften“. Polen war 1968 nicht antisemitisch. Eher im Gegenteil. Große Teile der dortigen Bevölkerung sympathisierten mit dem Prager Frühling und freuten sich diebisch über den triumphalen Sieg Israels über die Russen. Wenn die WELT etwas behauptet, ist fast immer das Gegenteil wahr. Ist eben reaktionäre Lügenpresse, die Polen aus dem Blickwinkel des „Völkischen Beobachters“ betrachtet.

Die Berliner Machthaber könnten übrigens den Buchstaben H verbieten, weil Hitlers Name damit anfängt. Dann würden sie Ass sähen und etzen.