Vergangenheitsbewältigung vor hundert Jahren

Durch den Ersten Weltkrieg war das Gesicht der deutschen Jugendbewegung – eine Mischung aus Naturvergötzung, Übermenschenglauben, Antiparlamentarismus, Antikapitalismus, Elitedenken, Horizontlosigkeit, Zukunftseuphorie und Gewaltsverehrung – über die deutschen Grenzen hinaus bekannt geworden und dieses Geschäftsmodell war im vierjährigen Überlegenheitscontest gescheitert. Die Verbreitung des deutschen Wesens auf den Rest der Welt war zunächst mit militärischen Mitteln nicht durchführbar. Der Wunsch nach Herrschaft der „idealistischen Geistigen“ über die „westlichen Materialisten“ rückte deswegen in Berlin noch lange nicht in weite Ferne.

Der verlorene kriegerische Wettbewerb der Nationen führte bei den einheimischen Intellektuellen zu einer Reaktion, welche man mit dem heutigen Vokabular als trotzkistisch bezeichnen würde: die Theorie sei richtig gewesen, nur die praktische Anwendung dieser Theorie habe eben nicht funktioniert. Man müsse das ganze noch einmal wiederholen. Die Jünger der Jugendbewegung spalteten sich in zwei Lager: Die einen sahen in der jungen Sowjetunion das Reich der aufgehenden Sonne, auf welches sie all ihre Hoffnungen projizierten. So wie man in Westberlin und Frankfurt später die fernen Reiche Maos, Pol Pots und das exterritoriale Refugium Che Guevaras pries.

Die anderen wollten Deutschland noch einmal verjüngen und dann zur nächsten Runde des Kräftemessens antreten. Beide Seiten, die vor dem Kriege sowohl in Worpswede, wie auch in Dresden, Murnau, und Friedrichshagen in Wohngemeinschaft miteinander gelebt hatten und gelegentlich die minderjährige Konkubine, den Pinsel, die Malfarbe und die Kunstgazette miteinander geteilt hatten, vergaßen ihr Herkommen und ihre Gemeinsamkeiten, um in zwei Parallelgesellschaften einzutauchen, die einen heißen und kalten Bürgerkrieg miteinander führten und nur noch gelegentlich, zum Beispiel als Bewunderer Mussolinis oder beim Stalin-Hitler-Pakt zusammentrafen.

Der Freikorpsführer Eggert etwa äußerte sich in diesem Sinne vor dem Sturm auf den Annaberg:

„Wachst über die Norm der Tapferen hinaus in die einsame Höhe der großen Einsamen der deutschen Nation! Das ist kein Befehl mehr! Das ist die Botschaft einer neuen Welt, die mit eurem Sieg beginnt oder die mit unser aller Untergang als Sehnsuchtstraum der kommenden zu den Sternen steigt! – Das Freikorps rückt in die Ausgangsstellung!“

Hauptmann Bertold verschränkte das deutsche und das internationale psychologistisch:

“Wenn ein Mensch aus der Masse herausdrängt und sich größere Lebensziele steckt, wenden sich alle von ihm ab, nur ganz wenige verstehen ihn. Sieht man Deutschland an, das Leben der Völker, es ist gleichsam verkörpert im Einzelwesen. Der ganze Feindbund gegen uns ist aufgebaut auf Haß und Neid gegen den unermüdlich vorwärtsstrebenden, rastlos arbeitenden Deutschen.“

Man soll sich nichts vormachen: Das Motiv des Siegens gegen den Rest der Welt, mit dem Risiko, daß Deutschland in Scherben geht, hatte sich in die intellektuelle Phantasie eingebrannt. Es fehlten nur noch die cleveren Ideologen, die dem deutschen Volk die Neue Deutsche Wolle auf ihrem leeren Webstuhl zeigten und deren Vorzüge erläuterten.

Große elitaristische Lebensziele steckten sich 1918 auch die vom heutigen Mainstream aus unerfindlichen Gründen eher links eingeordneten Dadaisten. Johannes Baader verkündete seinen Anspruch auf die Weltherrschaft und verteilte Visitenkarten als „Präsident des Erdballs“, die Berliner Dadaisten insgesamt bildeten den „dadaistischen Zentralrat der Weltrevolution“.

„Ich bin der präsident der weltenrepublik, der alle sprachen in der universalen rede spricht.“

„Dada ist groß, und John Heartfield ist sein Prophet“, verkündete ein kindisches Plakat. Raoul Hausmann präsentierte sich als „Präsident der Sonne, des Mondes und der kleinen Erde (Innenfläche). „Wir werden Weimar in die Luft sprengen“, verkündeten die Berliner Dadaisten und Hannah Höch schuf die Collage „Schnitt mit dem Küchenmesser durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands“.

Der Dadaismus wollte nach eigenem Bekunden „die Täuschungen der Vernunft zerstören und eine irrationalistische Ordnung entdecken“ (Hans Arp), er forderte ein „Denkdiktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegungen“ (André Breton im Ersten Manifest des Surrealismus 1924). Emotionales Denken sollte durch mechanisches Denken ersetzt werden, dadurch würde eine mechanische, rationalistische und friedliche Welt entstehen. Der Kopf wurde deshalb oft als mechanisches Konstrukt dargestellt, zum Beispiel von Raoul Hausmann in der Montage „Tatlin lebt zu Hause“ oder in der Assemblage „Mechanischer Kopf“.

Diese Sehnsucht nach einer irrationalistischen Ordnung speiste aus einem latenten Unglauben an die Vernunft. Das irrationalistische intellektuelle Brausen der Vorkriegszeit, die Kriegssehnsucht der Expressionisten, die mit den Kategorien der Rationalität nicht zu erklären war, sollte mit dadaistischem Irrationalismus ausgetrieben werden. Bellizistische Expressionisten und pazifistische Dadaisten standen beide auf dem ratiofeindlichen ideologischen Boden des Nietzscheanismus. In einigen Biografien ist diese enge Berührung manifest. Nachdem Richard Huelsenbeck einen dadaistischen Ausflug nach Zürich gemacht hatte, kehrte er Anfang 1917 nach Berlin zurück und schloß sich der Zeitschrift „Neue Jugend“ an. Im Mai 1917 veröffentlichte er in dieser Zeitung seine Hymne „Der neue Mensch“.

„Der neue Mensch muß die Flügel seiner Seele weit ausspannen, seine inneren Ohren müssen gerichtet sein auf die kommenden Dinge und seine Knie müssen sich einen Altar erfinden, vor dem sie sich beugen können.“

Nicht mehr viel von Dada, das war eher manirierter Spätexpressionismus. Dadaist wurde er erst wieder 1918. Der neue Mensch war anpassungsfähig. Vom Jugendstil über den Expressionismus, Aktionismus, Futurismus, Faschismus und Dadaismus bis zum Leninismus durchdrang er alle ideologischen Zellwände, der nietzscheanische Virus infizierte jeden künstlerischen und politischen Organismus. So wie heute der horizontlose Globalismus von Dr. Merkel und Soros György von der CSU bis zur Linken und in allen Medien und Theatern nachgebetet wird.

Es gab in der Zeit von 1880 bis 1945 keine konkurrierende Ideologie und keine konkurrierende kulturelle Bewegung, die die abgefahrenen Phantasien der Jugendbewegung in Frage stellte. Nur die alten Festungen des Katholizismus und des SPD-Marxismus standen dem Siegeszug des Neuen Menschen noch im Wege. Diese alten Bollwerke verteidigten den Demokratismus der Sattelzeit (1780 bis 1880) gegen den langsam anschwellenden Bocksgesang des Führerstaats, aber ihre Kämpfer starben langsam weg, ohne daß in nennenswerter Menge neue nachrückten. Der Führerkult dominierte die kommende Periode, egal ob im Gewand des Leninismus und Stalinismus oder des Nationalsozialismus daherkommend.

Der Erste Weltkrieg war verloren worden. In Wandervogel- und sonstigen bündischen Kreisen begann man den Jugend-, Gewalt- und Führerkult an die Nachkriegsordnung anzupassen. Zu den Fleißigen der ersten Stunde gehörten Oswald Spengler, Graf Westarp von der DNVP, der Sekretär des „Bundes deutscher Gelehrter und Künstler“ Heinrich von Gleichen, Eduard Stadtler, Arthur Moeller van den Bruck und Otto Hoetzsch. Einige Mitläufer wie Heinrich Brüning vom Zentrum, Georg Bernhardt von der DDP, der sozialdemokratische Staatssekretär August Müller und der Sozialwissenschaftler Franz Oppenheimer, bei dem der junge Ludwig Erhard studierte, bildeten mit den oben genannten zunächst den „Juni-Klub“, später den „Ring des deutschen Volkes“. Die Überparteilichkeit war sicherlich gewollt, man war sich im Kern aber nur in der Ablehnung des westlichen Parlamentarismus einigermaßen einig. Die Stimmung in diesen Kreisen war nicht konservativ im Sinne einer Rückkehr zum Kaiserreich, sie war eher nach vorne gerichtet, in eine Zukunft, die man an den Lagerfeuern der Wandervögel und bei den Freideutschen auf dem Hohen Meißner ersonnen hatte.

Oswald Spengler bedauerte nicht den Sturz des Kaisers, sondern die Kraft- und Stillosigkeit der Novemberrevolution:

„Kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein großer Mann, kein bleibendes Wort, kein kühner Frevel“

Der „große Mann“ und der „kühne Frevel“ waren offensichtlich Entlehnungen aus dem allgegenwärtigen „Zarathustra“ und dem Nietzsche-Werk im allgemeinen; auch „die Erde“ und „das Chaos“ sind zentrale Begriffe daraus:

Deutschland hätte es in der Novemberrevolution versäumt, Sozialismus und Nation miteinander zu verschmelzen und sich an die Spitze der „jungen Völker“ zu stellen. Die jungen Völker waren nach den damaligen Thesen überlegen, weil sie noch stark und fruchtbar wären, unverbrauchte barbarische Kraft der Mythenbildung in sich trügen, der Erde und dem schöpferischen Chaos näher stünden. Zu den jungen Völkern wurden im allgemeinen Deutsche, Russen, Japaner, Amerikaner und Italiener gerechnet. Bei letzteren beiden war die Zuordnung umstritten. Manche zählten sie zu den jungen, andere zu den alten Völkern.

Zu den alten Völkern wurden unstrittig Franzosen und Engländer gerechnet. Weil sie den jungen Völkern Deutschland und Russland geographisch im Wege lagen, konnten Tschechen und Polen, Slowaken und Litauer, Rumänen und Ungarn, Esten und Letten keine jungen Völker sein. Es war alles Schweinelogik mit offensichtlichen Ungereimtheiten.

Von Anfang an suchten die Anhänger der Jugendbewegung den Schulterschluß der jungen Völker gegen das Versailler System. Der spätere Parteisekretär der Deutschnationalen, Eduard Stadtler beispielsweise pries bereits 1920 die Diktatur Lenins: dort regiere ein Herrscher, der einzige in Europa. 1922 nach dem Marsch auf Rom favorisierte er ein Bündnis Deutschlands mit dem faschistischen Italien, mit den Jungtürken Atatürks und mit dem wie er es nannte „Sowjetfaschismus“.

Unter dem Titel „Der Sieg Lenins“ freute sich Stadtler im März 1921 über die Erstickung des angeblich von Frankreich angezettelten Kronstädter Matrosenaufstands im Blut.

„Als Deutsche sind wir gezwungen, uns über die französische Niederlage im Osten zu freuen.“

Die Annahme einer Verwicklung Frankreichs in diesen Aufstand ist überaus spekulativ; Stadtler wollte den „heuchlerischen schieberischen Antibolschewismus Frankreichs“ an den propagandistischen Pranger stellen; der Wunsch war wohl Vater dieses Gedankens.

Die nationalsozialistischen Rassetheorien lehnte man in altpreußischer Tradition ab, da Preußens Stärke auch durch die Aufnahme fremder Völker, z.B. der Hugenotten und österreichischer Protestanten vermehrt worden sei. Stadtler lobte beispielsweise „die belebende Wirkung von Völkermischungen für die Bildung überschwänglicher Rassekraft“.

Da haben Frau Dr. Merkel und Soros György offensichtlich von ihm abgekupfert.

Das Paradigma der Notwendigkeit von „Rassekraft“ war verbindend, nur das woher war zwischen Hitler und einem Teil der Wandervögel umstritten. Der Umgang mit Juden war ambivalent. Es gab kaum einen rechten Verschwörer, der in der Novemberrevolution nicht irgendwann mit dem sowjetischen Blutkommissar Radek konspiriert hatte. Das hinderte nicht, ihn in der „Deutschen Zeitung“ als „Radek-Sobelsohn“, „russischen Judenführer“ zu bezeichnen.

Vergangenheitsbewältigung ist immer irgendwie verlogen. Lehren aus der Vergangenheit sind trotz gegensätzlicher Beteuerungen noch nie gezogen worden.