Vor 40 Jahren: Winterblackout

Es gab vor einem halben Menschenalter schon mal ahnungslose Leute, die die Energieversorgung systematisch geschrottet hatten. Die Ostberliner Statthalter reagierten 1979 mit der Energieträgerumstellung (Abkürzung: ETU) auf eine Verknappung des Öls. ETU bedeutete – abgesehen vom Kernkraftwerk Lubmin – restlos alles auf Braunkohle umzustellen, alles auf eine einzige Karte zu setzen. Dabei hatte Sylvester 1978 gezeigt, was das für Risiken produziert. Nicht für das Weltklima, sondern für die Versorgungssicherheit.

Die deutschen Pseudoeliten können ohne Kampagnenwirtschaft nicht leben. Immer muß irgendwas von zentraler Stelle aus bekämpft, eingeführt, durchgesetzt oder vernichtet werden. Einwänden von Fachleuten wurde und wird von vornherein aus dem Weg gegangen. Die Befehle laufen lange Befehlsketten entlang, nie bekommt ein Politiker einen Ingenieur zu Gesicht oder ein Ingenieur einen Politkommissar. Damals wie heute. Auch der Kontakt der Politik zu den Meteorologen war im Dezember 1978 gekappt. Die Wetterfrösche hatten das Politbüro tagelang erfolglos vor der Katastrophe gewarnt. Die köstliche Zeit wurde für die gezielte Vorbereitung auf das Unvermeidliche nicht genutzt. Man hätte Reservisten einberufen, Armeeeinheiten in die Tagebaue und Panzer nach Mecklenburg verlegen können. Es wäre noch Zeit gewesen Notstromaggregate zu reparieren, man hätte Lebensmittelvorräte auf die Dörfer bringen können.  Und das einfache Volk informieren, damit Sylvester nicht noch Reisen nach Nirgendwo angetreten würden.

Am 31.12.1978 stand ich etwa um 15 Uhr auf Bahnsteig 3 des Hauptbahnhofs Weimar und wartete ebenso wie etwa hundert ahnungslose Leute auf den angesagten Zug nach Erfurt. Ich traf auf einen Bekannten und unterhielt mich mit ihm. Es war für winterliche Verhältnisse angenehm warm und windstill, vielleicht so 8 Grad. Nach wenigen Minuten kam mit einem Schlag ein kalter Wind auf und wir froren elend. Der Bahnsteig leerte sich, die Wartenden gingen in die Unterführung, wir auch. Das Thermometer war binnen fünf Minuten um 15 Grad gefallen. Das war aber erst der Anfang.

Der Zug nach Erfurt fuhr fast pünktlich, was damals unter die seltenen Glücksfälle gerechnet wurde. In Erfurt verkehrte auch noch die Straßenbahn, obwohl das Thermometer inzwischen bei 15 Grad Frost angekommen war. Bei der Sylvesterfeier bei meinen Eltern in Erfurt-Nord ging noch vor 23 Uhr das Licht aus. Und der Fernseher und der Elektroherd auch. In der Nacht wurden 20 Grad Frost erreicht. Neujahr war die Heizung kalt. Gegen Mittag ging ich zum Bahnhof, um nach Weimar zurückzufahren. Aber der Fahrplan hatte nur informativen Charakter. Stundenlang fuhr überhaupt nichts. Denn es hatte in der Nacht ordentlich geschneit. Offensichtlich mußte die Strecke erst mal freigekehrt werden und eine Diesellok gefunden. Eine 120 Tonnen wiegende sogenannte „Taigatrommel“. Die Baureihe hatte wegen ihrer Geräuschentwicklung diesen liebevollen Beinamen bekommen. Der Prototyp war in Luschansk vom Erfinder Lokomoff aus einem Stück gefeilt worden. So damals die Anekdote über den Erfinder der Lokomotive. Die Elektroloks standen herum, denn der Strom war thüringenweit nach wie vor weg. Am Nachmittag wurde ein Zug nach Weimar ausgerufen, wurde dann aber doch nicht auf dem angesagten Bahnsteig bereitgestellt. Es dauerte eine gute Stunde, bis der Zug nach einigem Hin und Her von einem anderen Bahnsteig dann doch abfuhr. Die Diesellok war eigentlich für den Güterzugdienst gebaut worden und für die Heizung der Garnituren nicht vorgerichtet. War nicht so schlimm, weil die Fahrt mit einigen Zwischenhalten auf der Strecke doch nur eine gute Stunde dauerte.

Nun kam ich in die eheliche Wohnung, die im Hinterhaus gelegen nur Außenwände mit 24er Ziegelmauerwerk hatte. Im Wohnzimmer stand ein transportabler Dauerbrenner, in der Küche, im Schlafzimmer, im Flur und im Klo gab es nichts zu heizen. Draußen schwankte die Temperatur eine Woche lang zwischen 15 Grad tags und 20 Grad nachts. Das Öfchen schaffte es nicht. Wir machten erst mal alle Innentüren auf und gingen ins Bett. Es dauerte bis man unter den Pfühlen etwas warm wurde und einschlief.

Am 2. Januar ging ich zur Arbeit. Um teils meterhohe Scheewehen herum und durch. Die Arbeitsstätte hatte als einziges Gebäude der Hochschule für Architektur und Bauwesen noch Ofenheizung, was dazu führte, daß die Betriebsleitung in den Räumlichkeiten den Krisenstab einrichtete. Ich wurde wieder nach Hause geschickt, nachdem ich in der Marienstraße zwei Stunden Schnee geschaufelt hatte. Auf dem Weg kam ich in der „Dimmi“ (offiziell Dimitroff-Straße) an der Drogerie Wünscher vorbei, die heute das Cafe „Wünsch dir was“ beherbergt. Ich war einer der letzten Kunden, der noch eine Packung Kerzen bekam. Wenigstens was, um das Klo zu heizen. Im Seifenladen gegenüber wurden Altarkerzen in Stücke geschnitten, um noch einige Kunden zu befriedigen.

Nach einer Weile stellte sich heraus, daß die Kerzen es auch nicht brachten. Ich machte in der Küche das Gas an und heizte über offene Türen Flur und Klo mit Gas. Das Einfrieren des Klos konnte verhindert werden, allerdings um einen hohen Preis. Die Feuchte des Stadtgases schlug an den kalten Wänden nieder und die Wände schimmelten. Im März mußte ich alles neu streichen.

Derweil wurden die größeren Schäden publik. In einigen Gebäuden gab es schon 1978 Zentralheizungen. Da der Strom weg war, gingen die Heizungspumpen nicht und die Heizkörper froren ein. Dazu kamen unglückliche Sparmaßnahmen. Eine davon war die sogenannte Einwegheizung. Um Heizungsrohr, insbesondere für die Rücklaufleitungen zu sparen, lief Warmwasser nur über die Vorlaufleitung. Abstellen konnte man die Heizkörper nicht. Wenn die Lehrlinge und Studenten in die Weihnachtsferien fuhren, ließen sie die Fenster angekippt, um bei der Wiederkehr wohltemperierte Räume vorzufinden. In fast allen Internaten waren die Heizkörper und Heizleitungen bereits am Neujahrsabend Schrott. Es dauerte Wochen bis die Räume wieder nutzbar waren.

Dabei war die Abhängigkeit vom Strom 1978 gering. In der Wohnung waren fünf Lampen, der Kühlschrank und das Röhrenradio ausgefallen. Das wars. Der Kühlschrank war bei dem Wetter überflüssig. Das Kochen ging mit Stadtgas einfach weiter, die batteriegetriebene „Heule“, also das Kofferradio funktionierte auch noch. Solche Dinge wie Kühltruhe, Fernseher, Heizungspumpen, elektrische Küchenhilfen und Computer gab es in Einfachhaushalten noch nicht. Heute wäre das Geschrei bei einem Blackout viel größer. Existenzielle Dinge wie Heizungen, Geldautomaten, Ampelanlagen auf Kreuzungen, Registrierkassen in Kaufhallen, alles elektrisch…

Im Internet findet man eine relotiusreife Legende. Der Strom sei in den beiden thüringischen und im fränkischen Bezirk zu Neujahr auf Befehl des Ministerrats abgeschaltet worden. Wenn dieser Befehl jemals gegeben worden wäre: Neujahr brannte in ganz Thüringen keine Lampe mehr. Der Strom hatte sich ohne Ukas aus Ostberlin von ganz alleine verabschiedet.

Gegen Ende der Neujahrswoche brannte wieder Licht. Die Scheewehen waren beseitigt und das normale Leben begann wieder. Am 08.01.1979 kletterte das Thermometer erstmals in den Plusbereich. Wenigstens am Tag.

Aus dem Schnee- und Kältedesaster in den Tagebauen wurde von der Parteiführung die Schlußfolgerung gezogen, noch stärker auf Braunkohle umzustellen. Der funktionierende Energiemix wurde abgeschafft. Finde den Unterschied zu heute!