Vor hundert Jahren: Chaostage in München

Vor wenigen Tagen hatte Herbert Ludwig auf Geolitico einen Eintrag über die Münchner Räterepublik gepostet. Der Schwerpunkt lag dabei auf Kurt Eisners fatalem Beitrag zur Legendenbildung über die deutsche Kriegsschuld. Anlaß war der hundertste Geburts- und Todestag der Räterepublik in der Weltstadt mit Herz. Ich möchte im Folgenden auf einen anderen Aspekt eigehen: Wer waren die sogenannten „Revolutionäre“?

Ein grelles Schlaglicht auf den ideologischen Zustand der USPD und der links von der Sozialdemokratie stehenden Revolutionäre wirft die Münchner Räterepublik. Noch heute ist Schwabing der ungläubigste bayrische Wahlkreis. Nach dem Ersten Weltkrieg war fast ganz München ein einziges Schwabing. Lenin entwickelte 1901 in Schwabing unter dem Einfluß des deutschen Elitarismus in seinem Werk „Was tun?“ die bolschewistische Führerpartei mit einer neuen antimarxistischen Definition des Verhältnisses von Führung und Masse; Hitler begann 1920 von Schwabing aus seine nationalsozialistische Führerpartei aufzubauen. Gleichermaßen beeinflußt von Friedrich Nietzsche wie die aktivistische Jugendbewegung ist auch das Bild vom anzustrebenden Neuen Menschen, einmal als Weltproletarier, ein andermal als Weltgermane.

Die Zentren der Lebensreform wie Schwabing waren durchaus keine linken Hochburgen, wie man es vermuten könnte, wenn man Berichte über Ausstellungen der Avantgarde sieht. Neben Ästhetizisten, Anarchisten und Sozialisten gab es genau so viele Antisemiten, Rassisten, Deutschtümler und Germanenschwärmer. Bis zum Ersten Weltkrieg handelte es sich um ein gemeinsames Biotop, in welchem sich die Reformbewegung versammelte, ohne eine Trennung in links und rechts. Ob in Worpswede, Schwabing, Weimar, Friedrichshagen oder im Brücke-Atelier in Dresden: immer teilten sich spätere Anarchisten, Ästhetizisten, Bolschwisten und Nationalsozialisten die Kunstzeitschrift, das Dach und die Konkubinen.

„Anarchisten, Bohemiens, Weltverbesserer, Künstler und krause Apostel neuer Werte“ trafen sich an den Schwabinger Kaffeehaustischen, „bleiche junge Genies träumten von einer elitären Erneuerung der Welt, von Erlösungen, Blutleuchten, Reinigungskatastrophen und barbarischen Verjüngungskuren für die degenerierte Menschheit“, schrieb Joachim Fest in seiner Hitlerbiografie.

Das reformistische USPD-Mitglied Kurt Eisner, ein Student von Kant und Nietzsche, bärtiger Theaterkritiker der „Münchner Post“ wurde ab dem 8. November 1918 Ministerpräsident der Räterepublik. Die Münchner wurden von glühenden Reden vom Reich des Lichts, der Schönheit und der Vernunft genervt, sie antworteten mit dem Spottlied „Revoluzilazilizilazi hollaradium, alls drah ma um, alls kehr ma um, alls scheiß ma um, bum, bum!“

Bei den Wahlen zum verfassunggebenden Landtag im Januar 1919 erlitt die USPD mit 2,5% eine vernichtende Niederlage. Wahlsieger waren die Bayrische Volkspartei und die Sozialdemokraten. Zu den Gründen für die Niederlage der USPD hat Herbert Ludwig vor allem Eisners Ansichten über die deutsche Kriegsschuld ausgemacht. Als Eisner gerade im Begriff war zurückzutreten, wurde er vom Grafen Arco-Valley ermordet. Der Landtag wurde vertagt, nachdem es zu Tumulten und weiteren Morden gekommen war. In diesem permanent bestehenden politischen Vakuum errichtete der Zentralrat unter dem Sozialdemokraten und späteren Nationalbolschewisten Ernst Niekisch eine Diktatur, in der der anarchistische Schriftsteller und Schwärmer Erich Mühsam sowie der expressionistische Kriegsverherrlichungsliterat Ernst Toller die Welt per Erlaß in eine Wiese voller Blumen, in der jeder sein Teil pflücken könne, verwandelten.

Sie befahlen den Zeitungen auf der Titelseite Gedichte von Hölderlin und Schiller zu publizieren, neben den neuesten Revolutionsdekreten. Mühsams politischer Beitrag beschränkte sich im wesentlichen darauf, unter der Rubrik „Der Lampenputzer“ die Mehrheitssozialdemokraten zu attackieren.

Am 17. März wurde Johannes Hoffmann (SPD) zum Ministerpräsidenten gewählt, wogegen der Zentralrat am 7. April putschte. Hoffmann mußte mit seiner Regierung nach Bamberg flüchten. Von dort aus organisierte er zielstrebig und erfolgreich die Niederschlagung des Münchner Intellektuellenputsches.

Der revolutionäre Außenminister Dr. Franz Lipp schrieb derweil ein Telegramm an den „Genossen Papst, Peter-Kathedrale, Rom“, in welchem er den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hoffmann beschuldigte, mit den Schlüsseln zur Toilette durchgebrannt zu sein.

Seine rassepolitische Überlegungen hinderten nicht, daß der Schwundgeldtheoretiker Silvio Gesell in der Münchener Räterepublik auf Betreiben Gustav Landauer´s, der seine Schriften und seinen Umgang kannte, und mit Zustimmung des Sozialdemokraten Niekisch „Volksbeauftragter für das Finanzwesen“ wurde. In seiner kurzen Amtszeit telegrafierte er der Berliner Reichsbankführung, dass München den Weg der systemlosen Papiergeldwirtschaft verlasse und „zur absoluten Währung übergehe.“ Gesell täuschte sich: Die Reichsbank sollte das Geld in der Inflation noch viel schneller entwerten, als er mit seinen geplanten 12 % jährlich.

Nach dem durch diese kindischen Eskapaden provozierten Rücktritt von Niekisch und den meisten Ministern ergriff im entstandenen geistigen und personellen Vakuum auf Geheiß Moskaus eine Gruppe von elitaristischen Berufsrevolutionären um Max Lewien, Eugen Leviné und Paul Borissowitsch Axelrod die Macht. Beschlagnahmekommissionen, Geiselverhaftungen, Geiselerschießungen, revolutionäre Willkür und der Hunger gewannen die Oberhand. Von expressionistischen Bohèmiens bis zu leninistischen Berufsrevolutionären war nacheinander alles, was die Lebensreform ausgebrütet hatte, als heterodoxes Allerlei an die Hebel der Münchner Ohnmacht geraten.

Fast überflüssig zu erwähnen, daß sich der Gefreite Adolf Hitler der Roten Armee unterstellte, Quartier in der Kaserne in Oberwiesenfeld nahm und bis zu seiner Verhaftung durch das in München einrückende Freikorps Epp Träger der roten Armbinde war. Er ließ sich mehrfach zu einem der Vertrauensleute seines Regiments wählen. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt Hitler im Trauerzug für den ermordeten Kurt Eisner. Hunderte Revolutionsteilnehmer wurden bei der Wiederherstellung der Ordnung erschossen, Hitler überlebte leider.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Räterepublik im Gegensatz zur politischen Klasse der frühen Weimarer Republik als konzentrierter Ausfluß der Reform- und Jugendbewegung. Elitarismus, Lebensreform, Expressionismus, Aktivismus, Vagabundismus waren die Bausteine und das faszinierende und eigentlich logische ist: die durch die kulturell dekadente Spätkaiserzeit vorgeprägten Massen folgten den amorphen Ideen der Revolutionsführer eine Weile lang. Solange es nicht lästig wurde, erschien dem Volk die bunte Republik als ein natürliches Glied in der geschichtlichen Abfolge. Links und Rechts hatten sich nicht wirklich geschieden, gerade in der Revolution zeichnet die simple Links-Rechts-Schablone kein zutreffendes Lagerpanorama. Die Räterepublik stand unter dem unausgesprochenen Motto: „Antidemokraten aller Richtungen, vereinigt Euch!“

Der harte gewerkschaftlich organisierte Kern der SPD blieb explizit elitaristischen Überzeugungen unzugänglich, am intellektuellen Rand bröckelte die Führung wie auch die Basis. Ideologisch kam es zwischen 1900 und 1920 zu einem Paradigmenwechsel auf beiden SPD-Flügeln. Der eine wurde egalitär-revisionistisch und ließ sich auf das parlamentarische System ein, der andere elitaristisch und antiparlamentarisch.

Der Übertritt von der SPD zur USPD war ein Massenphänomen; eine besonders interessante Beobachtung ist jedoch, dass fast alle Parteiintellektuellen zu den Unabhängigen übertraten, während die gewerkschaftsnahen Leute – Lenin nannte sie „Ökonomisten“ – in der SPD verblieben. Zu den zur USPD übergetretenen Intellektuellen gehörten Karl Kautsky, der 1920 von Lenin heruntergeputzt wurde, Eduard Bernstein, der 1920 aus der USPD ausgeschlossen wurde und wieder in die SPD eintrat, Rudolf Breitscheid, der ebenfalls zur SPD zurückkehrte, der Theaterkritiker Kurt Eisner, Rosa Luxemburg, die zu den Spartakisten abdriftete und Georg Ledebour.

Wir hatten eben die sehr unterschiedlichen Temperamente der Münchner Räterepublikaner erwähnt. Eisner, Mühsam, Dr. Lipp, Gesell, Axelrod, Hitler, Niekisch, Lewien und Toller verband nur eine sehr verschwommene Vorstellung vom neuen Menschen und einer neuen idealistischen Zeit und der Wunsch in diese neue Menschheitsperiode einzutauchen. Wenn man letzteres nicht versteht, so versteht man weder die Novemberrevolution noch die Weimarer Republik. Die von der Front und von den Schlachtschiffen nach Hause strebenden Soldaten kamen nachdem sie des langen Kriegs müde geworden, auf dem Wege nach Hause an einer Revolution von Literaten, Theaterkritikern, Malern und Poeten vorbei. Die Hoffnung dieser Kunstbeflissenen: Vielleicht ließ sich neben Russland wenigstens Deutschland auf den Pfad des Idealismus, einer ganzheitlichen geistigen Gesellschaft trimmen, wenn dieser Versuch auch zunächst militärisch gescheitert war.

Vernünftige Analytiker hätten sich natürlich gefragt, ob vielleicht alles mit der Vorkriegsideologie gestimmt hätte, ob der deutsche Weg des Idealismus und der Realitätsverweigerung nicht manchmal gescheitert sei. Aber es waren keine Analytiker, es waren Vulgäridealisten, die wie Roboter bei ihrer Programmierung blieben. Wenn der Krieg verloren war, so lag das nicht an einer falschen Theorie, sondern an der schlechten Umsetzung in der Praxis. Auch konservative Ideologen waren begeistert über den Zusammenbruch eines Regimes, das nicht idealistisch genug gewesen war, um echten Konservatismus zu verkörpern.

Die Vertreter der Jugendbewegung sowie die an der Front mit ihnen in Berührung gekommenen Jungbauern und Handelsgehilfen trafen auf die von der SPD abgesplitterten Intellektuellen, die sich in der USPD versammelt hatten, sowie ein Häuflein Spartakisten. Karl Liebknecht, Muck Lamberty, Kurt Eisner, Emil Nolde, Silvio Gesell, Paul Borissowitsch Axelrod, Heinrich Freisler, Lujo Brentano, Rosa Luxemburg, Adolf Hitler, Heinrich Mann, Hugo Haase und Karl Radek gehörten alle zum Personal der Revolution.

Im Dezember 1922 spaltete sich die USPD. Der größere Teil vereinigte sich mit der KPD, der kleinere als Rest-USPD mit der SPD. In der SPD bedeutete diese Wiedervereinigung eine Rückwanderung von irrlichternden Intellektuellen mit dem zweifelhaften politischen Format Rudolf Breitscheids. Mit diesem Personal fand die SPD bis 1933 keine Mittel gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus und Stalinismus.

Das Beitragsbild zeigt uns eine zeitgenössische Darstellung des Revoluzzers, der aus München gerade extrahiert wird.

Schönen Gruß an den Verfassungsschutz und die Maasi. Anetta und Angela sollte ich auch nicht vergessen.