Die asketische Lebensreform und die Bedürfnisse der Kernwählerschaft

Nein es geht nicht darum, zwei Parteien und zwei Zeiten gleichzusetzen. Ich versuche nur die Methodik von zwei Parteien im Umgang mit der Lebensreform zu beleuchten und stoße auf eine beachtliche Parallele.

Die erste Phase der Lebensreform begann etwa 1880 und endete 1945. Die wichtigsten Strömungen der sogenannten Jugendbewegung waren Wandervögel, Abstinenz, Leibesübungen, Vegetarismus, Reformkost, Reformkleidung, Germanenkult, Nacktkultur, Antisemitismus, Okkultismus, Waldorf, Reformerziehung, Männerbünde, Psychoanalyse, Natur-, Denkmal-, Landschafts- und Tierschutz, Demokratiefeindlichkeit und Führerglauben, Theosophie, Gartenstädte und völkische Siedlungen, Schwundgeld, Technikphobie, romantische Vorstellungen vom Wirtschaften. Häufig wiederkehrende Symbole waren das Hakenkreuz und die Todesrune, besonders beim Leib- und Magenmaler der Reform Fidus, der das „Lichtgebet“ schuf und die Jugendbewegung 40 Jahre thematisch begleitete. Er und andere verwendeten das Kreuz mit den verbogenen Enden zwanzig Jahre bevor Hitler es zum Parteisymbol machte. Es gab in der Spätkaiserzeit eine heute fast vergessene Deutsche Reformpartei, die programmatisch die NSDAP in allen Belangen vorwegnahm. Der kulturbeflissene erste Weimarer Wahlkreis entsandte schon 1907 einen Abgeordneten dieser Partei in den Reichstag.

Die Lebensreform hatte als Spielwiese von schrulligen Sektierern ihren Anfang genommen. Ob Kohlrabiapostel, Theosophen, Leibeszüchter, Nacktbader, Vegetarier, Mazdananjünger, Okkultisten, Astrologen oder Anthroposophen, viele dieser Sonderlinge gaben sich geheimnisvolle Regeln, lebten nach komplizierten Heilslehren, die nicht leicht zu verstehen waren. Verbindungen von Turnen mit Okkultismus und Buddhismus, von Architektur mit Nietzsches Philosophie, von ekstatischem Tanz mit Vegetarismus erforderten die Einübung bizarrer Gedankengebäude, die nur von einem kleinen Teil der Kulturbürger im Sinne ihrer Schöpfer verstanden wurden.

Viele der neuen Reformideen schlossen sich gegenseitig aus, die Reformsekten ignorierten sich und bekämpften sich untereinander. Links- und Rechtsintellektuelle zerfielen immer wieder in kleine Sekten und atomisierten sich.

Hitler war auch Reformist, aber er hatte von Anfang an die Überzeugung, daß die Lebensreform von bizarren, technikfeindlichen und skurrilen Inhalten gereinigt werden müsse um mehrheitsfähig zu werden. Arbeitern und Landwirten konnte man die in Kreisen der „Kulturschaffenden“ grassierende Technikfeindlichkeit nicht verkaufen, schon garnicht, weil diese Schichten damals die breite Mehrheit der Bevölkerung repräsentierten. Auch andere Nogos wurden aussortiert, leider jedoch nicht der Antisemitismus, an dem Hitler nicht nur festhielt, sondern ihn zur zentralen Heilslehre aufwertete. Sein Weg an die Macht wurde durch die Glättung von bizarren Falten des Reformgewands ermöglicht.

Die Popularisierung der neuen elitären Theorien auf ein allgemein verständliches Niveau wurde vor allem von der NSDAP verfolgt. Kolossale Gedankengebäude mit enormen Volumina wurden binnen verhältnismäßig kurzer Zeit auf die Stärke einer Flunder herabgebügelt. Was blieb nun bei der Masse hängen? Viele Sportarten erlebten ihre Geburt als Massensport, insbesondere der Fußball. Eine Luft- und Lichtsucht ergriff die Massen, man verbrannte sich die Haut beim Sonnenbaden und schlief auch im tiefsten Winter nachts bei geöffnetem Fenster. Eugenik, Führerglaube und Sozialismus waren schon im Spätkaiserreich gängige Überzeugungen.

Das Sektierertum, das die heterodoxe Welt der Lebensreform begleitete, zeigte sich in Hitler selber: Er war inkonsequenter Vegetarier, konsequenter Nichtraucher und Antisemit, Nichttrinker, dilettierender Architekt, professioneller Ausrichter von Aufmärschen und Weihen sowie über Darwin hinausdenkender Sozialdarwinist, der um mit Joachim Fest zu sprechen „dem Flickenteppich seiner Ideologie doch Dichte und Struktur“ zu geben verstand. Die Freßgewohnheiten der Affen bestätigten ihn beispielsweise in seiner eigenen Ernährungsweise. Viele völkische und ariosophische Theorien wehrte er ab, weil er sie als sektiererisch betrachtete, Rosenbergs „Mythos“ war ihm zu kompliziert, die Germanenschwärmer waren ihm zu wenig zielführend. Insbesondere aber grenzte sich Hitler von allen Sektierern ab, die eine Generation älter waren, als er selbst. Das waren aus seiner Sicht „Rückwärtse“. Hitler war wie seine ganze Umwelt jugendgläubig; nur die Glieder seiner Alterskohorte waren aus seinem Blickwinkel authentische Nationalsozialisten.

Die Reform mußte popularisiert und von obskurantistischen Details bereinigt werden, für breite Massen verdaulich gemacht, das war die eigentliche Arbeit Hitlers in den zwanziger Jahren. Übrig blieben die Sonne, die frische Luft, der Sport, der Führerkult, der Antisemitismus als Verkappung des Antikapitalismus, der Jugendkult, ein unscharfer Atheismus und der Schönheitswahn. Diese zentralen nietzscheanischen Botschaften begleiteten die Massen in die neue Zeit, die mit den Nazis zog.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Lebensreform etwa zwanzig Jahre „pfui“. Man sprach nicht darüber. Mitte der 60er Jahre lebe sie wieder auf. Es waren zwei recht ungleiche Marschsäulen, die da teils nebenher marschierten, sich zuweilen auch berührten. Zum einen kamen die alten Herren der ersten Reformgenerationen noch einmal ans Licht, die vor allem als Naturfreaks und/oder NPD-Anhänger auftraten. Zum anderen die APO-Enkelgeneration, die seltsamerweise ihren Eltern und nicht den Großeltern die Schuld am Nationalsozialismus zuwies (was so pauschal auch falsch gewesen wäre).

Spätestens seit Herbert Gruhls Abspaltung von der CDU und den Demos gegen das Kernkraftwerk Wyhl 1974 gab es die Lebensreform wieder. Nach der Gründung der Grünen war das ganze Repertoire der Jugendbewegung wieder am Start, garniert mit etwas asiatischem Steinzeitkommunismus. Trau keinem über 30, hieß es damals.

Die Marschsäulen der Reformismus hatten seither 50 Jahre Entwicklungszeit. Die Mainstreammedien sind inzwischen zu gut 70 % übernommen worden, ebenso ein riesiges Netz von NGOs. Das Verbandsklagerecht wurde durchgedrückt, die Ehe für Alle, Zensurbestimmungen, um mißliebige Meinungen zu unterdrücken, eine Allianz mit den Moslembrüdern wurde eingegangen, um das der Jugendbewegung von Anfang an verhaßte römische Recht endlich zu zerstören. Im Laufe der Zeit gab es immer wieder häßliche Offenbarungen und Mißtöne. Da war zunächst einmal die in grünen Kreisen verbreitete Pädophilie. Aber auch Forderungen nach dem Veggyday kamen nicht gut an. Vor allem aber verschreckten die moralinsauren Gesichter einer Renate Künast oder Simone Peter sowie die Dauerwelle von Anton Hofreiter diejenigen, die ihr bißchen Leben genießen wollen.

Robert Habeck, Annalena und Katharina (im Volksmund Kerosin-Katha) stellen eine geliftete Lebensreform dar. Sie kommt offen hedonistisch daher und verzichtet auf die selbstgestrickten Pullover und jedwede Askese ebenso wie auf die lümmelige Arroganz der ersten grünen Generation. Ein großbürgerlicher Lebensstil mit zahlreichen Fernreisen wird vor dem Publikum lustvoll ausgebreitet. Die Botschaft an die städtische Anhängerschaft: Wird doch mit uns alles nicht so schlimm. Zahlen werden unsere Dolce Vita die Steuersklaven und Pendler aus der Provinz.

So wie Hitler die Technikphobie der Wandervögel der Machtergreifung opferte, so Habeck und Co. die grüne Lustfeindlichkeit. Die dummgeil wirkende Katha ist die gelebte Antithese zur ernsten und genußphoben Renate Künast. Die grünen Weltenbummler Luisa, Cem und Katha jagen der Berliner, Münchner und Hamburger Schickeria keine Angst mehr ein. Im Gegenteil, ein Gefühl der Verbundenheit dominiert. Dieses internationalistische Jetset hatte die erste grüne Generation noch heimlich und verdruckst praktiziert, heute lebt man dank Twitter und Facebook ganz ungeniert im offenen Vollzug. Ökologischer Fußabdruck als Bärentatze ist akzeptabel geworden, zumal er als der guten Sache dienend kommuniziert wird.

Was Hitler und Habeck gemeinsam haben, ist eben das zielgerichtete und gekonnte Zurechtdrechseln der Reform auf die Bedürfnisse der jeweiligen Kernwählerschaft, die heute allerdings eine völlig andere ist, als in den 20er Jahren.