Gastbeitrag: Der deutsche Sonderweg

Einige Bemerkungen zu einem schillernden Kampfbegriff, der zur Zeit fröhliche Auferstehung feiert, aber kaum einer will die Gründe bemerkt haben

Der Begriff der deutsche Sonderweg bedeutet, dass wir Deutschen politisch einen Weg beschreiten, der sich von allen anderen Nationen deutlich unterscheidet. Im Folgenden werde ich kurz darstellen, wo der Begriff herkommt, wer ihn anwendete bzw. neuerdings anwendet, und was damit zum Ausdruck gebracht werden soll.

Ausgangspunkt ist die (west)-alliierte Kriegspropaganda beider Weltkriege, in der gebetsmühlenartig verkündet wurde, dass die Deutschen ein von Grund auf verderbtes Volk seien. Sie könnten mit ihren Nachbarn nicht in Frieden leben, zumal sie Spaß an Mord und Totschlag hätten. Diese verdammenswerten Eigenschaften hätten nicht nur zur Auslösung des Ersten und erst recht des Zweiten Weltkriegs geführt, sondern seien zurück verfolgbar bis ins Mittelalter oder sogar noch weiter bis ins klassische Altertum. Fleißige Propagandisten fuhren Karl den Großen und Hermann den Cherusker als mordende Kronzeugen auf.

Man könnte diese Albernheiten mit einem Schulterzucken abtun, wenn nicht ab den frühen 1950-er Jahren deutsche Historiker – frisch entbräunt und gesinnungsgewaschen – die alliierte Kriegs-Propaganda in die deutschen Geschichtsbücher zu übertragen begonnen hätten. Sie taten dies unter dem Schlagwort vom deutschen Sonderweg. Wenn man den ganzen akademischen Klimbim einmal beiseite schiebt, behaupteten sie Folgendes: Die Deutschen seien – anders als andere Nationen – aus mangelnder Einsichtsfähigkeit nicht den Weg der Demokratie gegangen, so dass es zu den Weltkriegen aufgrund dieses schuldhaften Versagens gekommen sei.

Die Langzeitfolgen dieser Lehre vom deutschen Sonderweg waren immens, denn in enger Übereinstimmung damit entstand das Lehrgebäude der Vergangenheitsbewältigung, in dessen fensterlosen Räumen Kollektivschuld und Erbsünde ihr unfrohes Dasein fristen. Aus diesem moralischen Gefängnis – so die reine Lehre – werden wir erst befreit werden, wenn die Deutschen sich als Volk aufgelöst haben werden. Wem meine Beschreibung zu verrückt klingt, der höre einmal unsern grünen Großdenkern von Fischer über Trittin und Roth bis Habeck zu. Und wem das noch immer nicht reicht, der bemühe sich, die stotternden Wortwolken unserer Kanzlerin mit Sinn zu erfüllen.

Beispiel gefällig? Voila: „Wenn so eine Aufgabe sich stellt und wenn es jetzt unsere Aufgabe ist – ich halte es mal mit Kardinal Marx, der gesagt hat: Der Herrgott hat uns diese Aufgabe jetzt auf den Tisch gelegt –, dann hat es keinen Sinn zu hadern, sondern dann muss ich anpacken und muss natürlich versuchen, auch faire Verteilung in Europa zu haben und Flüchtlingsursachen zu bekämpfen. Aber mich jetzt wegzuducken und damit zu hadern, das ist nicht mein Angang.“ Angang? Na gut, dann eben Angang.

Ich unterziehe mich hier nicht der Mühe, das Grundkonstrukt des deutschen Sonderwegs vor den Augen des Lesers Stück um Stück einer Faktenkontrolle zu unterziehen, um es zu widerlegen. Das habe ich in den letzten Jahren in der Trilogie Unterwegs zur Weltherrschaft grundlegend versucht. Dort kann es bei Interesse nachgelesen werden. Allerdings möchte ich darauf aufmerksam machen, dass selbst die schrägsten Konstruktionen meistens irgendwo einen konkreten Kern haben. Den gibt es auch beim deutschen Sonderweg.

Die Deutschen taten in der zweiten Hälfte des Neunzehnten und der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts einiges, was sie von ihren Nachbarn und den anderen Großmächten auffallend unterschied: Sie installierten die Bildung als Staatsziel und schränkten frühzeitig die menschenverachtenden Auswüchse der Industrialisierung ein. Beide Maßnahmen – vor der Hand kostspielig – führten zu einem sensationellen wirtschaftlichen Aufstieg. In dessen Gefolge kam das Wort von der deutschen Tüchtigkeit auf. Die Deutschen selbst hätten besser unterlassen, es in den Mund zu nehmen, denn es musste auf Außenstehende ätzend wirken. Entsprechend waren die Reaktionen. Man lese die britische Presse des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts nach: Dort sind sie versammelt: Neid, Missgunst, Invasions-Ängste und antideutsche Kriegshetze.

Und die Deutschen? Kriegten sie von alledem nichts mit? Ich vermute: Nein, denn sie waren mit ihrer nationalen Nabelschau beschäftigt. Heute nehmen unsere Vergangenheitsbewältiger unsern Vorfahren das mit harschen Worten übel und protzen damit, wie man das alles hätte machen müssen. Dabei handelten jene kaum kurzsichtiger als diese, die ach so wunderbar grenzenlosen Nachgeborenen. Denn ohne auch nur rechts und links zu blicken, fabulieren unsere sog. Eliten vom Exportweltmeister und vom reichen Land, in das jedermann hochwillkommen einreisen darf, um dann mit Vollversorgung hier zu bleiben. Wir ignorieren selbstverliebt, dass unsere Nachbarn diesen Wahnwitz nicht schätzen.

Und weil wir unser Verliebtsein in die eigene Tüchtigkeit offenbar noch steigern können, werden wir ab sofort die Welt vor dem CO2 und dem Feinstaub retten. Zu diesem Zweck demolieren wir unsere Auto- und Chemieindustrie und zertrümmern unsere Kraftwerke. Was den Nachbarn zunächst wie eine tolle wirtschaftliche Chance erschien, ruft rundherum inzwischen offene Missbilligung hervor. Der Verkauf von Atomstrom an die irre gewordenen Deutschen hat neben dem Geschäftlichen einen gefährlichen Pferdefuß, nämlich die ständige Gefahr eines gewaltigen Blackouts, weil die Strom-Abnahme dem häufig wechselnden und kaum zu prognostizierenden Anfall von Wind und Sonnenschein folgt. Schwankungen dieser Art kann kaum einer unserer Anrainer im Stromverbund verkraften. Dem drohenden europäischen Total-Blackout will man jenseits der Grenzen im Osten und Südosten seit Jahresbeginn durch nationale Regelungen begegnen. Das heißt im Klartext: Wenn schon ein von Deutschen verursachter Blackout, dann nur dort, aber nicht bei uns.

Schritt um Schritt setzen wir uns von unsern Nachbarn ab. Unser polit-medialer Komplex nennt das eigene Tun wirklichkeitsfremd eine europäische Lösung und kann wegen des 20-Prozent-Ergebnisses der deutschen Grünen bei der letzten Europawahl vor Kraft kaum gehen. Und die Nachbarn? Sie haben die Grünen zu dem degradiert, was sie in Wirklichkeit sind: Eine kleine Gruppe egozentrischer gemeinschaftsschädigender Spinner.

Ja, in der Tat, Deutschland ist auf einem Sonderweg. Dem einen oder anderen fällt das jetzt auch auf. Der neue Inhalt des deutschen Sonderwegs ist der hier: Deutschland löst sich selber auf. Oder wie Thilo Sarrazin es formulierte: Deutschland schafft sich ab. Viele Bürger stehen wie die Gartenzwerge ratlos am Rande und hoffen auf ein Wunder.

©Helmut Roewer, Juni 2019