Heute vor 30 Jahren: Krawalle in Sachsen

Der Drang nach Prestige ist für strauchelnde Regime oft wie eine Droge. Noch bei den alten Hohenzollern hieß es: „Mehr sein, als scheinen.“ Ihre Ostberliner Diadochen hielten es umgekehrt für richtig: Mehr scheinen als sein.

In Prag hatten sich im September / Oktober 1989 in der deutschen Botschaft zahlreiche Ossis versammelt, die in der Diktion der 50er „abhauen“ wollten, oder in der der 80er „wegmachen“.

Die diskrete Bahnreise in verplombten Garnituren von Prag nach Nürnberg, Regensburg oder Hof hätte etwa 4 Stunden gedauert und wäre unspektakulärer verlaufen, als der Transport über Dresden und Plauen. Auf Wunsch der Partei wurde aber die längere Route durch Sachsen gewählt. Wohl um zu zeigen, wie souverän die DDR ist, und um den Reisenden ohne Rückfahrkarte noch mal Angst einzujagen.

Hier ein paar Zitate aus BAHN EXTRA 03/09, Seite 20 ff.

Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker kam (…) mit dem Chef der Prager Kommunistischen Partei, Jakes, überein, die Ausreise auch für die noch in den Botschaften Einquartierten vorzubereiten. Die Neuigkeit, welche Genscher am 30. September verkündete, betraf 6.000 Flüchtlinge in Prag und 633 in Warschau. Mit Zügen, gestellt von der Deutschen Reichsbahn (DR), sollten sie in den Westen fahren.

Die DDR-Führung bestand dabei auf einer offiziellen »Ausbürgerung«, indem die Züge über DDR-Gebiet fuhren. Viele der in Prag wartenden Flüchtlinge hatten Bedenken und glaubten an eine Falle. Erst als Genscher zusicherte, dass jeden Eisenbahnwagen zwei Beamte des Auswärtigen Amtes begleiten, beruhigte sich die Stimmung. Als Laufweg sah man die Strecke von Bad Schandau über Karl-Marx-Stadt, Plauen (Vogtl) und Gutenfürst vor: 253,7 Kilometer DDR-Gebiet.

(…) Mit Bussen wurden die Botschaftsflüchtlinge noch am 30. September 1989 zum Bahnhof Praha-Liben gefahren, wo die Sonderzüge bereitstanden. Gegen 20:50 Uhr setzte sich mit Sr (= Sonderreisezug) 23360 der erste von sechs Zügen in Bewegung. Wie alle Flüchtlingszüge bestand er aus zehn zweifarbigen Wagen 1. bzw. 2. Klasse (Gattungen Am, Bm, Bmh). In Bad Schandau übernahm eine Elektrolok der DR-Baureihe 250 die Leistung; ab Reichenbach bespannte eine Diesellok der DR-Baureihe 132 den Zug bis Hof an der Saale. Die Lokomotiven stellte – wie bei allen 14 Flüchtlingszügen der ersten beiden Ausreisewellen – das Bw Reichenbach. Im Bahnhof Dresden-Reick war ein Wechsel des Ellok-Personals vorgesehen. Sr 23360 musste im Dresdener Hauptbahnhof sogar halten, ebenso der nächste Zug reichlich zwei Stunden später. Das hatte Konsequenzen: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich, dass die Flüchtlingszüge über DDR-Gebiet fuhren. Tatsächlich gelang es drei Personen, auf den zweiten Zug in die Freiheit aufzuspringen.

In der Hoffnung, es diesen gleich zu tun, versammelten sich vor allem auf dem Dresdner Hauptbahnhof viele weitere Menschen. Doch nun gingen die Verantwortlichen rigoros vor: Um 05:00 Uhr lag der Befehl des Innenministers zur verstärkten Streckensicherung vor. Die folgenden Züge durften auf keinem Bahnhof halten und mussten zügig durchfahren. Die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) belegen am 1. Oktober 1989 »keine weiteren Fluchtversuche oder Spontanhandlungen der Bevölkerung«.

(…) Der erste der sechs Flüchtlingszüge traf am Morgen des 1. Oktober 1989 um 06:14 Uhr in der Freiheit auf dem bayerischen Bahnhof Hof (Saale) ein. (…) Wie Sr 23360 nahmen die weiteren fünf Flüchtlingszüge dieser ersten Ausreisewelle den Weg über Bad Schandau – Dresden – Plauen nach Hof. Sie kamen im Laufe des 1. Oktober 1989 in Hof an. Alle Züge brachten – nach Angaben des Einsatzstabes des Grenzschutzkommandos Süd – 5.490 Flüchtlinge aus der DDR mit (nach anderer Quelle: 5.273). (…)

Die Bereitstellung der nächsten Züge in Prag verzögerte sich um einige Tage. In der Nacht vom 4. zum 5. Oktober 1989, zwischen 18:34 und 01:35 Uhr, verließen dann weitere acht Züge die Hauptstadt der Tschechoslowakei.

Noch mehr als bei der ersten Ausreisewelle versuchten Bürger in der DDR, auf die Züge aufzuspringen. Die Flüchtlinge in spe stammten aus allen Bezirken außer Rostock und Suhl – so die Feststellungen der Staatssicherheit. Wie die Staatssicherheit die Fluchtversuche einschätzte, zeigt ein Fernschreiben, das Oberst Bohl der MfS-Bezirksverwaltung Dresden an die Zentrale schickte: »Seit 03. 10. 1989 kam es im und um den Hauptbahnhof Dresden zur Zusammenrottung von Ausreisewilligen und Asozialen in Erwartung der von Prag kommenden Züge mit den auszusiedelnden Botschaftsbesetzern. Offenbar be­fanden sich unter diesen Personen auch konterrevolutionäre Elemente, die provozierend und brutal auftraten. Weit über 2.000 Personen traten zunehmend als aktiv handelnder Kern auf. In den späten Abendstunden des 04. 10. 1989 befanden sich im Bahnhofsgebäude ca. 5.000 Personen und um den Bahnhof weit über 10.000.«

Die ersten drei Sonderzüge aus Prag waren zur Zeit der »Krawalle« in Dresden bereits in Bad Schandau eingetroffen. Das MfS ließ sie nicht weiterfahren, bis mit Sicherheit ausgeschlossen werden konnte, dass Ausreisewillige Bahnanlagen besetzt halten. In einigen Fällen hatten Leute versucht, durch Blockieren der Gleise die Züge zum Halten zu bringen – zum Teil sogar, indem sie sich ins Gleis stellten. (…)

In der Folge zeigten die Fluchtversuche Wirkung. Nach den ersten drei Zügen reduzierte man den Laufweg durch die DDR. Die restlichen fünf Züge am 4./5. Oktober 1989 nahmen den nur 94,6 Kilometer langen Weg von Bad Brambach über Plauen (Vogtl) nach Gutenfürst.

Sie verließen Praha-Liben zwischen 19:28 Uhr am 4. Oktober und 01:35 Uhr am Morgen des 5. Oktober. Der DDR-Grenzbahn­hof Gutenfürst wurde am 5. Oktober 1989 zwischen 05:49 Uhr und 10:48 Uhr (nach anderer Quelle: 05:27 Uhr und 09:53 Uhr) Richtung Hof passiert. Insgesamt 6.242 Personen (nach anderen Quellen: 7.607 oder 8.270) kamen mit dieser zweiten Ausreisewelle in den Westen.

Die DDR-Führung beabsichtigte, die Botschaftsflüchtlinge als Staatenlose ohne Papiere abzuschieben. Folglich waren ihnen die Pässe abzunehmen – möglichst unauffällig. Das Einziehen der Personalpapiere geschah anfangs bei dem rund 45-minütigen Zughalt in Reichenbach (Vogtl) oberer Bahnhof, der dem Lokwechsel diente. Bei den am 4./5. Oktober 1989 folgenden Zügen zog man die Personalausweise während der Fahrt zwischen Bad Schandau und Reichenbach (Vogtl) ein. Eingesetzt wurden dafür Angehörige der Staatssicherheit, die sich als Mitarbeiter der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates des Bezirkes Karl-Marx-Stadt bzw. Dresden ausgaben. Verweigerten die Reisenden die Abgabe der Papiere bzw. Angaben zur Person, mussten sich die »Einsatzkräfte« damit zufrieden geben; sie waren angewiesen, keine weiteren »Maßnahmen« einzuleiten. Das Verweigern der Personalien stellte aber die Ausnahme dar. Vielen Ausreisewilligen war offensichtlich nicht bekannt oder bewusst, dass aufgrund ihrer Personalien ihr Vermögen eingezogen werden sollte.

Während den ersten Zug am 30. September 1989 vorwiegend Menschen über 30 Jahre genutzt hatten, fuhren in den weiteren Zügen zunehmend so genannte Jung­erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren mit. Etwa die Hälfte der in den ersten sechs Zügen befindlichen Menschen war erst am 29./30. September 1989 in die CSSR eingereist! Diese »Jung­er­wach­se­nen« hielten bei der Fahrt durch die DDR auch nicht mit ihrer Meinung hinter dem Berg: Sie schwenkten aus den geöffneten Zugfenstern Fahnen der Bundesrepublik, Embleme mit dem Bundesadler und sangen das Deutschlandlied. Bei der Durchfahrt auf Bahnhöfen riefen sie außerdem anerkennend »Es lebe Genscher«,»Gorbi, Gorbi – wir wollen raus« oder »Freiheit«. Angehörige der Transportpolizei und andere Uniformierte wurden mit Abfallbeuteln, DDR-Münzen und anderen Gegenständen beworfen sowie beschimpft.

Bei den über Bad Brambach geleiteten fünf Zügen der zweiten Ausreisewelle gab es einen weiteren gelungen Fluchtversuch. Anlass dazu bot der Betriebshalt, den die Züge in Plauen (Vogtl) oberer Bahnhof einlegen mussten, um die Fahrtrichtung zu wechseln und die Lok umzuspannen. Während eines dieser Halte schafften es sieben Personen, auf den abgesperrten Bahnsteig vorzudringen; zwei von ihnen kamen in den Zug.

Die Nachrichten von den Krawallen um die Bahnhöfe verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und machten den Sachsen und Thüringern Mut. Bei Zehntausenden Demonstranten stieß der sozialistische KZ-Staat an die Grenzen seiner Verprügelungs-, Inhaftierungs- und Unterbringungsmöglichkeiten. Auch machten sich bei den Sicherheitsorganen erste Ermüdungen der revolutionären Wachsamkeit bemerkbar. Insbesondere die unteren Ränge der Vopo waren nicht mehr motiviert.

Die Anekdote zeigt auch, wie im Endstadium des Fakestaats mit der zugehörigen Fakestaatsangehörigkeit umgegangen wurde. Beunruhigend war damals immer der Gedanke, daß SPD und Grüne die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen wollten, was sie ja bei jeder Gelegenheit propagierten. Dann wären die Betroffenen in die Staatenlosigkeit gefallen. Aber zum Glück regierte gerade Helmut Kohl.