Statt Schummerstunde kommt die Faulwoche

Früher war von 16 bis 18 Uhr Stromsperre. Meine Oma nannte das in der dunklen Jahreszeit „Schummerstunde“. Die Erwachsenen saßen bei einer Kerze im Wohnzimmer. Die Frauen strickten oder trennten auf – dazu reichte die Kerze – und mein Vater glotzte Löcher in die Luft und trank Tee. Träge entspannen sich Gespräche. Daß das Nachbarmädchen Christine viel aufgeweckter wäre als ich, daß Wäschediebe unterwegs waren, was meine Freundin Sieglinde für ein ungezogenes Straßenmädchen sei, was ich den Tag wieder ausgefressen hatte, man stritt sich über die nächste Anschaffung und damit übers Geld. Die Oma: „Jetzt fehlen nur noch Gardinen“ Das waren die Sekunden, wo mein Vater kerzengrade in die Luft ging. Kernthema war jedoch in welchem Laden es was gegeben hatte und wie lang die Schlange gewesen war.  Wie die Oma den KONSUM ausgespäht hatte und den Lkw gesehen, der etwas gebracht hatte. Daß die Jelloneck vom Obst- und Gemüsekiosk unten in die Tüte einen faulen Apfel gelegt hatte. Daß in der Milchkanne wieder ein Haar von der Milchfrau gesichtet worden sei, und daß der Sohn vom Konditor beim Abhauen erwischt worden war. Das nannte sich in der Amtssprache Republiksflucht. Daß ein Lkw ein Rad verloren hatte, welches in einen Kinderwagen gerollt war. Daß die Russen putschinelli putschinelli sprechen, die Oma verwechselte das irgendwie mit Italienisch. Daß der Wassertopf wieder mal entkalkt werden müßte. Hammerpflege oder heiß machen ohne Wasser wurde diskutiert. Was man hamstern sollte, wenn der Krieg wieder ausbricht.

Es war damals wirklich nicht vieles, was elektrisch war: Das Licht, das Radio, ein Haartrockner von vor dem Krieg, der einen Bombenangriff überstanden hatte, und der Staubsauger. Der Herd wurde noch mit Eierbriketts betrieben, das Feuer mußte wie bei den alten Germanen rund um die Uhr gehütet werden. Im Wohnzimmer stand ein Kachelofen, Waschmaschinen, Telefone, Küchengeräte, Fernseher und Kühlschränke gab es noch nicht. Statt eines Kühlschranks stand in der Speisekammer ein Gazeschrank, ein Holzgestell mit Holzböden und Fliegengitter. Die Oma war Meister darin, die Reste vom Vortag zum Essen des Folgetages zu verwerten. Verderb fiel bei ihr in die religiöse Kategorie: Sünde. Wenn doch ein Kompott oder ein Saft zu gären anfing, wurde wieder aufgekocht.

Einmal hatte Oma Heringe gebraten und eingelegt. Das Fett war zu schade zum wegkippen. In der Küche waberte noch der dicke Dunst des Bratfetts, die milde Abendsonne warf durch das offene Küchenfenster schräge Strahlen in diesen Nebel und es wurden im Fischfett Pfannkuchen gebacken. Würde heute niemand anrühren. Damals: Köstlich, und das Wasser lief uns Kindern im Mund zusammen!

Bei der Schummerstunde fehlte also nur das Lampenlicht und das Radio. Man konnte keine Bilderbücher ansehen, der Vater hatte kein Licht für die Lügenpresse  und den Frauen war es zu dunkel zum Stopfen und Sticken. Die kleinen Männchen, die im Radio saßen und musizierten hatten ihre wohlverdiente Pause. Wenn der Strom wieder anging sangen sie von der Sehnsucht eines Seemanns nach seiner Heimatstadt oder vom Einpacken der Badehose und des Schwesterleins, um zum Wansee zu fahren. Alle träumten von fernen Meeren und Seen, mein Vater malte mir eines Sonntagmorgens einen Hafen mit Segel- und Dampfschíffen, Fischernetzen, Strandkörben und betrunkenen Matrosen.

Dadurch, daß die Oma den ganzen Tag zu Hause war, das Essen kochte, den Herd fütterte, viele Einkäufe erledigte, war nach Feierabend nicht so ein Streß, wie heutzutage in der Kleinfamilie. Es war zeitlich alles entspannter und die Stromsperre war zu verschmerzen. Es gab ohne Autos auch fast keine Freizeitaktivitäten, jeder war froh, wenn er nach der Arbeit endlich zu Hause war. Das Fernsehen klaute keine Zeit und man ging mit den Hühnern ins Bett, denn am nächsten Morgen wurde beim ersten Hahnenschrei aufgestanden. Auch Sonnabends wurde noch bis Mittags gearbeitet, aber es gab am Wochenende abends keine Spitzenbelastungszeit und damit keinen Ausfall beim Strom, keinen „Lastabwurf“.

Die Schummerstunde wird jetzt neu- und umorganisiert. Ingrid Nestle, energiepolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, hat für Stromsperren – die bisher euphemistisch „Lastabwürfe“ getauft worden waren – eine neue Vokabel: „Speicher“. Das Abschalten von Verbrauchern ist allerdings nicht wie von den Grünen behauptet das Speichern von Strom, sondern die Inanspruchnahme von Strom je nach Wetter. Das soll mit Smart-Metern auch in Haushalten realisiert werden. Wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, müssen wir uns auf Faultage oder -wochen einstellen, und nicht mehr auf täglich planbare Schummerstunden.

Wenn nach einer Woche Flaute der Wind wieder anspringt, erwacht Deutschland aus dem Dornröschenschlaf: die Kühltruhe fängt wieder an zu laufen, das Licht brennt wieder, die Waschmaschine fängt an zu waschen, alles rast zur Arbeit, um die versäumten Stunden nachzuholen, die Ampeln gehen zwar wieder, aber auf allen Kreuzungen ist Stau, die Busse bekommen die Türen nicht mehr zu, weil die Leute auf den Trittbrettern stehen.

In dem Augenblick aber, wo der Wind nachläßt, fällt Deutschland wieder in Dunkelheit. Die Bundeskanzlerin fängt an in ihrer Kanzlerstube einzuschlafen und der ganze Hofstaat mit ihr. Die Kaufhallen machen zu, die Kühe werden nicht mehr gemolken, die Hunde legen sich schlafen, die Krankenhäuser hören auf zu behandeln, die Fliegen an der Wand bleiben stehen, ja, der Herd geht aus, der Braten hört auf zu brutzeln, und der Koch, der dem Küchenjungen, weil er etwas versehen hat, eine Ohrfeige geben wollte, schläft ein. Alice Weidel hörte auf die Kanzlerin zu schelten und auf den Bäumen vor dem Haus regt sich kein Blättchen mehr.

Und als der nächste Sturm kam, schlug die Kanzerin die Augen auf, erwachte und der ganze Hofstaat, und sahen einander mit grossen Augen an. Und die Kaufhallen machten wieder auf, die Kühe wurden endlich gemolken, die Hunde sprangen auf und schüttelten sich; die Fliegen an den Wänden krochen weiter; der Herd in der Küche ging wieder an und kochte das Essen; der Braten fing wieder an zu brutzeln; und der Koch gab dem Jungen die versäumte Ohrfeige, daß er schrie; und Frau Weidel machte Dr. Merkel weiter zur Schnecke. Die Bäume vor dem Kanzleramt bogen sich unter dem Sturm.

Eine romamtische städtische Boheme plant den Energie-Staatsstreich.