Die Lehren aus den Pariser Vorortverträgen

Vor hundert Jahren wurden die sogenannten Vorortvertäge „abgeschlossen“. Es waren Pariser Vororte, die den sog. „Friedensverträgen“ von Versailles, St. Germain, Sevres, Neuilly und Trianon die Namen gaben. Das Problem war: Frankreich war einerseits auf die Erlangung eigener Vorteile bedacht, anderererseits aber nach dem langen Weltkrieg zu ausgepumpt, um die Vertragsergebnisse zu verteidigen. Es herrschten gleichzeitig Schnäppchenmentalität und Kriegsmüdigkeit.

Das zeigte sich zunächst in der Türkei. Der Vertrag von Sevres hatte dazu geführt, daß Arabien und die griechisch bewohnte Westküste abgetreten wurden und ein kurdischer Staat gebildet werden sollte. Außerdem wurde Armenien mit den vor dem Wetkrieg armenisch bewohnten Gebieten bedacht. Zypern ging ebenfalls verloren.

Die Tinte des Vertrags war noch nicht trocken, als seine Revision begann. Die Türken massakrierten die Griechen und vertrieben deren Reste aus der Westtürkei, die Kurden wurden zu „Bergtürken“ erklärt und von den Armeniern war eh nichts mehr übriggeblieben. Die waren schon im Weltkrieg ausradiert worden. 1924 wurde der Vertrag von Sevres durch den von Lausanne ersetzt, der die Türkei etwa in den Grenzen aushandelte, die sie heute hat.

Damit begann wiederum die Revision des Vertrags von Lausanne. 1939 trat Frankreich die arabische Provinz Hatay an die Türkei ab, angeblich um einen Kriegseintritt der Türkei an der Seite Deutschlands zu verhindern. 1974 erfolgte die Rückeroberung von Nordzypern, die Griechen wurden wie gewohnt vertrieben. 2018 wurde der von Kurden bewohnte Bezirk Afrin erobert, in der arabischen Provinz Idlib haben sich die Türken schon vor Jahren festgesetzt. Das Gebiet ist zwischen Russen und Arabern einerseits und Türken andererseits derzeit umkämpft.

Der Hedschas mit den heiligen Stätten Mekka und Medina sollte gemäß des Vertrags von Sevres ein unabhängiger Staat werden, woraus auch nichts wurde. Das Königreich Hedschas wurde 1925 von Saudi-Arabien erobert. Im Vertrag von Sevres verzichtets die Türkei auf jegliche Mitsprache in Libyen. Auch diese Klausel ist mittlerweile revidiert, die Türkei ist derzeit Kriegspartei.

Frankreich hatte die syrischen Provinzen anfangs nach Religionen getrennt verwaltet, unglücklicherweise wurden sie vor der Entlassung Syriens in die Unabhängigkeit vereint, was letztlich die Ursache für den laufenden Bürgerkrieg war und ist. Ebenso wurde der Libanon mit unmöglichen Grenzziehungen verlassen. 1881 begann die Rückkehr der Juden nach Samaria und Judäa. Die Engländer, die das Mandat in der Gegend hatten, waren mit der Gewährleistung der sog. „Willkommenskultur“ überfordert. Daraus folgten zahlreiche Massaker und Kriege.

Die Revision des Vertrags von Sevres war relativ opferreich. Übriggeblieben vom Vertragswerk ist praktisch nichts.

Glücklicher ging es dem Vertrag von Neuilly-sur-Seine, der mit Bulgarien geschlossen wurde. Er ist in seinen Grundzügen bis heute gültig. Westthrakien wurde 1919 von Bulgarien an Griechenland abgetreten und die Griechen haben jetzt den Schaden, weil sie damit direkt an die Türkei grenzen. Bulgarien hatte auch einen weiteren Vorteil. In dem abgetretenen Gebiet machten Moslems einen nicht unerheblichen Bevölkerungsanteil aus. Den ist man billig an Griechenland losgeworden.

Die Verträge von Versailles (mit Deutschland), von St. Germain (mit Österreich) und Trianon (mit Ungarn) kann man hinsichtlich ihrer Langzeitwirkungen nur im Paket behandeln, weil die aus den Abtretungen gebildeten Staaten in der Regel aus mehreren Verträgen hervorgingen. Jugoslawien aus den Verträgen von Sevres, Trianon, und St. Germain, die Tschechoslowakei aus den Verträgen von Versailles, Trianon und St. Germain, Rumänien aus den Verträgen von Trianon und Sevres und Polen aus denen von Versailles und St. Germain. Selbst Österreich wurde aus den Verträgen von St. Germain und Trianon zusammengestückelt.

Das abschreckendste Beispiel für einen in den Vororten gebackenen Vielvölkerstaat ist Jugoslawien. Von Anfang an vertrugen sich die drei Kulturen – der durch die Donaumonarchie geprägte katholische Nordwesten, das orthodoxe Serbien und die moslemischen Landesteile nicht, weil es als serbisch beherrschter Zentralstaat konzipiert wurde. Selbst in Montenegro und Mazedonien kam nie Freude auf. Formal wurde dieser Fehler nach dem zweiten Weltkrieg behoben, allerdings nicht in der Realität. Die Serben wurden bis in die 80er Jahre als Besatzer wahrgenommen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und deren Rückzug aus Europa kam es 1991 zum 10-Tage-Krieg in Slowenien, dem Kroatienkrieg 1991–1995, dem Bosnienkrieg 1992–1995 und dem Kosovokrieg 1998–1999. Damit war der Zerfall noch nicht gestoppt, 2006 wurde Montenegro wieder unabhängig. Die Vorortverträge waren, was Jugoslawien betraf, damit zu etwa 90 % geschrottet worden.

Nicht glücklicher ging es Polen. Es wurde 1939 zwischen der Sowjetunion und Deutschland aufgeteilt. Die Wiederherstellung erfolgte 1989 nach der Juniwahl, bei der die Solidarnosc 99 von 100 Senatorensitze gewonnen hatte, allerdings mehrere hundert Kilomerter nach Westen verschoben.

Die Tschechoslowakei, 1918 gebildetes multikulturelles Kunstgebilde aus fünf Völkern wurde 1938/39 zerschlagen. Nach der Existenz mehrerer aufeinanderfolgender Vasallengebilde wurde 1990 die Tschechische und Slowakische Föderative Republik gegründet, die jedoch nur eine Halbwertszeit von gut zwei Jahren hatte. 1993 trennten sich Tschechien und die Slowakei friedlich. In der tschechoslowakischen Armee waren Messer und Gabel die Hauptwaffe, wie man damals sagte. Zum Glück.

Bisher ungelöst sind zahlreiche Minderheitenrechte. Ich möchte nur mal zwei Beispiele herausgreifen: Die Südtiroler haben sich zwar eine gewisse Autonomie in Italien erbombt, auf die Steuerpolitik in Rom haben sie aber keinen Einfluß. Darüber haben die Südtiroler immer am meisten gejammert. Eine gleichberechtigte Teilhabe wäre möglich, wenn für die italienische Steuer- und Sozialpolitik ein Tiroler Veto eingeführt würde. Zum Nachteil Italiens wäre das gewiß nicht gewesen, wenn man es seit 1919 so gehalten hätte, die italienischen Staatsfinanzen wären in mustergültiger Ordnung. Weiterhin wäre auch ein Veto der Karpatenungarn in der ukrainischen Gesetzgebung erforderlich, um die Ungarn in der Ukraine angemessen an der Entscheidungsfindung in Kiew zu beteiligen.

Was Deutschland betrifft, war das Versailler Diktat auch nicht förderlich. Die Reparationszahlungen verbauten eine Rückkehr Deutschlands zur Marktwirtschaft, die Tribute konnten nur in der Verlängerung der Kriegswirtschaft aufgebracht werden. Damit war aber die Machtübernahme des Nationalsozialismus schon vorgezeichntet. Die Pariser Denker, die glaubten, daß man eine Demokratie auf Basis von Planwirtschaft aufrechterhalten kann, die täuschten sich gewaltig.

Die Friedensverträge von 1919/1920 waren eine Art Eisschrank, in dem die Zeit und die unterworfenen Völker eingefroren werden sollten. Es funktionierte nicht. Selbst das kleine Litauen warf die französischen Besatzer 1923 aus dem Memelland.

Wenn man Lehren aus den Pariser Vorortverträgen für die Gegenwart ziehen will, so ergibt sich zunächst, daß interntionale finanzielle Transfers in einer Situation der allgemeinen Überschuldung nichts außer Zweitracht bringen. Das Zusammenbündeln von unterschiedlichen Kulturen in Zentralverwaltungsmonstren führt immer wieder zu Befreiungskriegen, Aufständen und Repression. Es überfordert auf Dauer auch die Unterdrücker, wie der Zerfall des Osmanischen Reiches, der Sowjetunion und Jugoslawiens exemplarisch gezeigt haben. Die deutsche oder holländische Stabilitätskultur und die spanische, französische oder italienische  Inflationsmentalität lassen sich auf Dauer nicht zur Deckung bringen.

Auch Griechenland ist so ein Fall. Das ist sozialökonomisch tiefstes Asien. Schon die Römer sind an den griechischen Strukturen gescheitert und man hatte sich zwischen Rom und Konstantinopel bereits ab Mitte des vierten Jahrhunderts administrativ zunehmend auseinandergelebt. Ähnliche Probleme gab es im RGW. Zwar war alles in einer Zentralverwaltungswirtschaft miteinander verklammert, aber Polen, Balten, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Sachsen und Thüringer erinnerten sich der alten Freiheiten, die Russen dagegen kannten sowas vermutlich nicht. Oder doch? Vielleicht die Kosaken oder die Tschetschenen oder die Sibirjaken.

Ich selbst hatte kein klares Bild. Ich glaubte wirklich, daß in der Zwischenkriegszeit noch Marktwirtschaft geherrscht hätte, wie es die ML-lehrer predigten. Ich rieb mir die Augen, als ich 1989 erstmals den Westen sah. Mir wurde sehr schnell klar, daß das auch Sozialismus war, nur viel gemäßigter, halt ohne asiatische Produktionsweise. Man hatte im abgedichteten Ostblock ein völlig verzerrtes Bild von der Zwischenkriegszeit und vom angeblich kapitalistischen Westen. Es waren losgelöste Mythen entstanden, die aber einen wahren Kern hatten. Es war die Welt um 1900, die im Bewußtsein der Völker tief verankert war und bleibende Eindrücke hinterlassen hatte. Die innere Uhr war stehengeblieben, das Rad der Geschichte hatte sich nach der Jahrhundertwende nicht mehr weitergedreht. In Zeiten der Depression entsteht eine Pan-Tadeusz-Mentalität, die sich in Märchen verkriecht. Irgendwann kommt Kaiser Barbarossa und zieht seinen Bart aus dem Steintisch…

Du kannst den Wessis hundert Jahre enreden, daß mehr Europa die Lösung ist. Sie werden sich trotz allem immer an den Mythos des Wirtschaftswunders der 50er und 60er Jahre erinnern und man wird von der stabilen DM träumen. Jede Gehinwäsche hat ihre Grenzen, insbesondere wenn Erfolge des sog. Fortschritts ausbleiben.

 

Grüße an den Verfassungsschutz. Ich hab da mal eine Neufassung vom Deutschlandlied. Ist die verfassungskonform? Von dem Maas bis zu der Merkel, Alle wollen an dein Geld, Gold und Silber über alles, Über alles in der Welt!