Blutkommissar Trotzki war eigentlich Futurist

Am Ende der 80er Jahre durchstöberte ich gelegentlich Lenins Schriften. Mir fiel auf, daß er noch in der sibirischen Verbannung Marxist war und sich aus den Hut-, Putz- und Handschuhmacherinnen um Moskau das Entstehen des Kapitalismus in Rußland zusammenphantasierte, so wie die ursprüngliche Akkumulation im „Kapital“ beschrieben war. Als braver Schüler, sehr detailverliebt und pinselig. Aus Deutschland zurückgekehrt dagegen, hatte er eine beispiellose Prinzipienlosigkeit entwickelt und schrieb jeden Tag etwas anderes, oft das Gegenteil vom Vortag. Es fiel auf, er hatte sich fundamental neu orientiert.

Eines Tags sah ich im Bücherladen zwei sehr billige Reclambändchen „Lenin, Dokumente seines Lebens“. Ich kaufte sie und sah herein. Alle Bücher, die er in Sibirien gelesen hatte, waren aufgeführt, es waren nicht wenige. In Deutschland und in der Schweiz dagegen schien er überhaupt nichts gelesen zu haben. Hier hatte der Herausgeber offensichtlich geputzt. Ein weißer Fleck war entstanden, wahrscheinlich handelte es sich um einen peinlichen Sachverhalt, der vertuscht wurde. Es ließ sich in den 80ern dank allumfassender Zensur und Einzäunung nicht aufklären, ich verschob die Recherche dazu auf später. Was blieb mir sonst übrig?

Zwanzig Jahre danach, im Jahr 2006, hatte ich einen wackligen Telekom-Internetanschluß und begann die Sache über Google zu klären. Gib dein Ziel niemals auf! Die Herren Lenin und Trotzki hatten in München und Zürich die ganze deutsche Lebensreform gelesen und sogar die abgefahrene Künstlerkolonie „Monte Veritá“ bei Ascona im Ticino besucht. Marx wurde in „Что делать?“ im Sinne der Lebensreform „modernisiert“, ohne ihn ganz zu verwerfen. Aus einer Lehre für die Massen wurde die Einweisung einer elitären Geheimloge. Im Januar 1918 schrieb Alfons Paquet, der mit dem bolschwistischen Kommissar Karl Radek im ständigen Gedankenaustausch stand, in sein Stockholmer Tagebuch, Russland sei ein asiatischer Elefant, geritten von zwei Zürcher Privatdozenten, Lenin und Trotzki.

Trotzkis politischer Stern war bereits im Sinken, als er 1924 sein Buch „Literatur und Revolution“ veröffentlichte. Trotzki war in der Nietzscherezeption eher Futurist als Romantizist oder Klassizist. Der Futurist Marinetti hatte 1913 die Neue Welt als technizistisch fundamentiert beschrieben: „So leugnen wir auch den aufdringlichen Glanz der toten Jahrhunderte und halten es mit der siegreichen Technik, die die Welt in ihrem Netz der Geschwindigkeit hält.“ So liest sich Trotzkis Gesellschaftsentwurf über weite Strecken wie das Manifest des Futurismus:

„Das ameisenartige Durcheinander von Stadtvierteln und Strassen wird Steinchen für Steinchen unmerkbar von Geschlecht zu Geschlecht ersetzt durch den titanischen Bau von Dorf-Städten, nach der Karte und mit dem Zirkel. Um diesen Zirkel werden sich echte Volksgruppen dafür und dagegen bilden, eigenartige bautechnische Parteien der Zukunft, mit Agitation, mit Leidenschaften, Meetings, Abstimmungen. In diesem Kampf wird die Architektur von neuem, aber schon auf höherer Ebene, von den Gefühlen und Stimmungen der Massen durchdrungen sein, und die Menschheit wird sich plastisch erziehen, d.h. sie wird sich daran gewöhnen, die Welt als gefügigen Ton zum formen immer vollkommenerer Lebensformen zu betrachten. Die Wand zwischen Kunst und Industrie wird fallen. Der zukünftige hohe Stil wird kein verzierender, sondern ein gestaltender sein. Darin haben die Futuristen recht. Es wäre allerdings ein Fehler, wollte man dies als eine Liquidierung der Kunst, als ihre Selbstaufgabe vor der Technik auslegen.(…) Bedeutet dies etwa, dass die Industrie die Kunst ganz in sich aufsaugen oder dass die Kunst die Industrie zu sich auf den Olymp emporheben wird? Diese Frage kann man so und anders beantworten, je nachdem, ob wir von der Industrie oder von der Kunst her an sie herangehen. Aber im objektiven Endergebnis wird es zwischen den Antworten keinen Unterschied geben. Beide bedeuten eine gigantische Erweiterung der Sphäre und eine nicht weniger gigantische Steigerung der künstlerischen Qualifikation der Industrie, wobei wir damit ausnahmslos die gesamte produktive Tätigkeit des Menschen meinen.“

Das Bauhaus-Manifest hatte nur die hochmütige Mauer zwischen dem Handwerk und der Kunst niederlegen wollen, Trotzki ging darüber hinaus und stellte wie die späten Bauhäusler die Distanz zwischen Industrie und Kunst in Frage. Wie August Bebel wollte er die Welt physisch völlig umgestalten. So wie die Klimasekte mit dem Thermometer kämpft, wollte er bereits 1924 den Ozeanen und Flüssen Regeln vorschreiben:

„Der neue Mensch, der sich erst jetzt projektiert und verwirklicht, wird nicht wie Kljujew, und nach diesem auch Rasumnik, die Auerhahnbalz und das Netz für den Stör dem Hebekran und dem Dampfhammer gegenüberstellen. Der sozialistische Mensch will und wird die Natur in ihrem ganzen Umfang einschliesslich der Auerhähne und der Störe mit Hilfe von Maschinen beherrschen. Er wird beiden ihren Platz anweisen, und zeigen wo sie weichen müssen. Er wird die Richtung der Flüsse ändern und den Ozeanen Regeln vorschreiben. Die idealistischen Tröpfe mögen glauben, dies werde langweilig werden – aber dafür sind sie eben Tröpfe. Natürlich wird dies nicht bedeuten, dass der ganze Erdball in Planquadrate eingeteilt wird und das die Wälder sich in Parks und Gärten verwandeln. Wildnis und Wald, Auerhähne und Tiger wird es wahrscheinlich auch dann noch geben, aber nur dort, wo ihnen der Mensch den Platz anweist. Und er wird dies so gescheit einrichten, dass selbst der Tiger den Baukran nicht bemerken und melancholisch werden, sondern wie in Urzeiten weiterleben wird. Die Maschine ist auf allen Lebensgebieten ein Werkzeug des modernen Menschen. Die gegenwärtige Stadt ist vergänglich, aber sie wird sich nicht in dem alten Dorf auflösen. Im Gegenteil, das Dorf wird sich grundsätzlich zur Stadt erheben. Das ist die Hauptaufgabe. Die Stadt ist vergänglich; aber sie kennzeichnet die Zukunft und weist ihr den Weg, während das gegenwärtige Dorf völlig in der Vergangenheit ruht.“

Nach der Vision einer grundlegenden Veränderung der Erde durfte auch die Vorstellung von der Schaffung des Neuen Menschen und ausdrücklich des Übermenschen nicht zu kurz kommen. Wenn es sonst keinen Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Nietzscheanismus und Futurismus gäbe, so hätte Blut-Kommissar Trotzki ihn uns gegeben:

„Wovon heutzutage einzelne Enthusiasten nicht immer sehr gescheit träumen – hinsichtlich der Theatralisierung des Alltags und der Rhythmisierung des Menschen selbst – das fügt sich gut und nahtlos in diese Perspektive ein. Der Mensch wird, wenn er seine Wirtschaftsordnung rationalisiert, d. h. mit Bewusstsein erfüllt und seinem Vorhaben unterworfen hat, in seinem gegenwärtigen trägen und durch und durch verfaulten häuslichen Alltag keinen Stein auf dem anderen lassen. Die zentnerschwer auf der heutigen Familie lastenden Sorgen um die Ernährung und Erziehung werden von ihr genommen und Gegenstand der öffentlichen Initiative und des unerschöpflichen kollektiven Schaffens werden. Die Frau wird endlich aus dem Zustand der Halbsklaverei befreit werden. Neben der Technik wird die Pädagogik – im breitesten Sinn der psychophysischen Formung neuer Generationen – zur Beherrscherin der öffentlichen Meinung werden. Die pädagogischen Systeme werden mächtige „Parteien“ um sich scharen. Die sozialerzieherischen Experimente und der Wettbewerb verschiedener Methoden werden eine Entfaltung erfahren, von der man heute noch nicht einmal träumen kann. Die kommunistische Daseinsform wird nicht wie ein Korallenriff zufällig entstehen, sondern bewusst aufgebaut, durch die Idee überprüft, ausgerichtet und korrigiert werden. Wenn das Dasein aufhört, eine Elementargewalt zu sein, wird es aufhören schal zu sein. Der Mensch, der es gelernt hat, Flüsse und Berge zu versetzen und Volkspaläste auf den Gipfel des Montblanc oder auf dem Meeresgrund des atlantischen Ozeans zu bauen, wird seinem Alltag natürlich nicht nur Reichtum, Farbigkeit und Spannung verleihen, sondern auch höchste Dynamik. Die Hülle des Alltags wird – kaum entstanden – unter dem Ansturm neuer technischer und kultureller Erfindungen und Errungenschaften wieder gesprengt werden.“

„Der Mensch wird endlich daran gehen, sich selbst zu harmonisieren. Er wird es sich zur Aufgabe machen, der Bewegung seiner eigenen Organe – bei der Arbeit, beim Gehen oder im Spiel – höchste Klarheit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit und damit Schönheit zu verleihen. Er wird den Willen verspüren, die halbbewussten und später auch die unterbewussten Prozesse im eigenen Organismus: Atmung, Blutkreislauf, Verdauung und Befruchtung zu meistern, und wird sie in den erforderlichen Grenzen der Kontrolle durch Vernunft und Willen unterwerfen. Das Leben, selbst das rein psychologische, wird zu einem kollektiv-experimentellen werden. Das Menschengeschlecht, der erstarrte Homo sapiens, wird erneut radikal umgearbeitet und – unter seinen eigenen Händen – zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des psychophysischen Trainings werden. Das liegt vollkommen auf der Linie seiner Entwicklung. Der Mensch hat zuerst die dunklen Elementargewalten aus der Produktion und der Ideologie vertrieben, indem er die barbarische Routine durch wissenschaftliche Technik und die Religion durch Wissenschaft verdrängte. Dann hat er das Unbewusste aus der Politik vertrieben, indem er die Monarchie und die Stände durch die Demokratie und durch den rationalistischen Parlamentarismus und schliesslich durch die kristallklare Sowjetdiktatur ersetzte. Am schlimmsten hat sich die blinde Naturgewalt in den Wirtschaftsbeziehungen festgesetzt – aber auch dort vertreibt sie der Mensch durch die sozialistische Organisation der Wirtschaft. Dadurch wird ein grundlegender Umbau des traditionellen Familienlebens ermöglicht. Im tiefsten und finstersten Winkel des Unbewussten, Elementaren und Untergründigen hat sich die Natur des Menschen selbst verborgen. Ist es denn nicht klar, dass die grössten Anstrengungen des forschenden Gedankens und der schöpferischen Initiative darauf gerichtet sein werden? Das Menschengeschlecht wird doch nicht darum aufhören, vor Gott, den Kaisern und dem Kapital auf allen Vieren zu kriechen, um vor den finsteren Vererbungsgesetzen und dem Gesetz der blinden Geschlechtsauslese demütig zu kapitulieren! Der befreite Mensch wird ein grösseres Gleichgewicht in der Arbeit seiner Organe erreichen wollen, eine gleichmässigere Entwicklung und Abnutzung seiner Gewebe, um schon allein dadurch die Angst vor dem Tode in die Grenzen einer zweckmässigen Reaktion des Organismus auf Gefahren zu verweisen, weil es gar keinen Zweifel daran geben kann, dass gerade die äusserste Disharmonie des Menschen – die anatomische wie die psychologische – die ausserordentliche Unausgeglichenheit der Entwicklung der Organe und Gewebe dem Lebensinstinkt eine verklemmte, krankhafte und hysterische Form der Angst vor dem Tode verleiht, die den Verstand trübt und den dummen und erniedrigenden Phantasien von einem Leben nach dem Tode Nahrung gibt.

Der Mensch wird sich zum Ziel setzen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, seine Instinkte auf die Höhe des Bewusstseins zu heben, sie durchsichtig klar zu machen, mit seinem Willen bis in die letzten Tiefen seines Unbewussten vorzudringen und sich so auf eine Stufe zu erheben – einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus, und wenn man will – den Übermenschen zu schaffen.

Bis zu welchem Ausmass der Selbstbeherrschung der Mensch der Zukunft es bringen wird – das ist ebenso schwer vorauszusehen wie jene Höhen, zu denen er seine Technik führen wird. Der gesellschaftliche Aufbau und die psychisch-physische Selbsterziehung werden zu zwei Seiten ein und desselben Prozesses werden. Die Künste: Wortkunst, Theater, bildende Kunst, Musik und Architektur – werden diesem Prozess eine herrliche Form verleihen. Genauer gesagt: Jene Hülle, in die sich der Prozess des kulturellen Aufbaus und der Selbsterziehung des kommunistischen Menschen kleiden wird, wird alle Lebenselemente der gegenwärtigen Künste bis zur Leistungsfähigkeit entfalten. Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe oder Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“

Die beiden Gesichter von Leo Trotzki – der grausame Blutkommissar und der spintisierende Weltverbesserer – widersprachen sich nicht wirklich. Gewalt war zur Etablierung der sozialistischen Seifenblasen von Anfang an eingepreist. Es ist der Grund, warum man sich vor Reißbrettpolitikern hüten sollte. Sie gehen über Leichen.

Der Elitarismus hatte sich nacheinander in immer wieder neue Gestaltideen verpuppt: Vom Jugendstil über den Expressionismus zum Futurismus. Aber das war noch nicht das Ende. In Russland wie in Deutschland nahte die Zeit, wo Nietzsches Übermensch in ein populäres Gewand gesteckt wurde. Trotzkis Stern sank zwischen 1925 und 1927 aprupt in die Tiefe und das Bauhaus flüchtete sich von einem Ort zum anderen in den Untergang. Die politschen Newcomers Stalin und Hitler hatten simplere, aber robuste Vorstellungen von Höherentwicklung.