Der Medieneinfluß auf Großereignisse war schon immer schlecht

Unsere Journalisten denken, daß sie mit der großen Transformation – dem Green Deal – das Ei des Kolumbus ganz legefrisch entdeckt hätten. Sie befinden sich in Wirklichkeit in einer langen und schädlichen Tradition des Trommelns für den horizont- und maßstabslosen Umbruch, der immer gescheitert ist.

Ich bin ein Freund des historischen Vergleichs, wie meine Leser wissen. Heute habe ich mal exemplarisch die Beschreibung des Kriegsausbruchs 1914 in Wien herausgepickt, wie sie Karl Kraus als Theaterstück „Die letzten Tage der Menschheit“ abgeliefert hat. Aufgespießt hat Kraus im Folgenden vor allem die liberale vom Bildungsbürgertum gelesene „Neue Freie Presse“ des Chefredakteurs und Eigentümers Moriz Benedikt.

Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee –! Der Thronfolger und seine Gemahlin von Verschwörern ermordet!

Ein Reporter (zu seinem Begleiter): Hier nimmt man am besten die Stimmung auf. Wie ein Lauffeuer, sehn Sie, hatte sich am Korso die Nachricht verbreitet, wo sich die Wogen brechen. Das fröhliche Leben und Treiben, das sich sonst um diese Stunde zu entfalten pflegte, verstummte mit einem Male, Niedergeschlagenheit; das Gefühl tiefer Erschütterung, zumeist aber stille Trauer, konnte man von allen Gesichtern ablesen. Unbekannte Leute sprachen einander an, man riß sich die Extrablätter aus der Hand, es bildeten sich Gruppen –

Zweiter Reporter: Da möcht ich so vorschlagen: In den Alleen der Ringstraße sah man Gruppenbildungen von Leuten, die das Ereignis besprachen. Wachleute zerstreuten die Gruppen und erklärten, daß sie weitere Gruppenbildungen nicht dulden würden. Hierauf bildeten sich Gruppen und das Publikum begann sich zu massieren – sehn Sie, dort!

Nach dem Kriegsausbruch waren die Reporter wieder auf der Gasse:

Der erste Reporter (hält ein Notizblatt in der Hand): Das war kein Strohfeuer trunkener Augenblicksbegeisterung, kein lärmender Ausbruch ungesunder Massenhysterie. Mit echter Männlichkeit nimmt Wien die schicksalsschwere Entscheidung auf, Wissen Sie, wie ich die Stimmung zusammenfassen wer‘? Die Stimmung läßt sich in die Worte zusammenfassen: Weit entfernt von Hochmut und von Schwäche. Weit entfernt von Hochmut und von Schwäche, dieses Wort, das wir für die Grundstimmung Wiens geprägt haben, kann man nicht oft genug wiederholen. Weit entfernt von Hochmut und von Schwäche! Also was sagen Sie zu mir?

Der zweite Reporter: Was soll ich sagen? Glänzend!

Der Erste: Weit entfernt von Hochmut und von Schwäche. Tausende und Abertausende sind heute durch die Straßen gewallt, Arm in Arm, Arm und Reich, Alt und Jung, Hoch und Nieder. Die Haltung jedes Einzelnen zeigte, daß er sich des Ernstes der Situation vollauf bewußt ist, aber auch stolz darauf, den Pulsschlag der großen Zeit, die jetzt hereinbricht, an seinem eigenen Leib zu fühlen.

Eine Stimme aus der Menge: Lekmimoasch!

Der Reporter: Hören Sie, wie immer aufs neue der Prinz-Eugen-Marsch erklingt und die Volkshymne und ihnen gesellt sich wie selbstverständlich die Wacht am Rhein im Zeichen der Bundestreue. Früher als sonst hat heute Wien Feierabend gemacht. Daß ich nicht vergeß, wir müssen besonders schildern, wie sich das Publikum vor dem Kriegsministerium massiert hat. Aber vor allem, nicht vergessen erwähnt zu werden darf – raten Sie.

Der Zweite: Ob ich weiß! Nicht vergessen erwähnt zu werden darf, wie sie zu Hunderten und Aberhunderten sich in der Fichtegasse vor dem Redaktionsgebäude der Neuen Freien Presse massiert haben.
Der Erste: Kopp was Sie sind. ja, das hat er gern der Chef. Aber was heißt Hunderte und Aberhunderte? Ausgerechnet! Sagen Sie gleich Tausende und Abertausende, was liegt Ihnen dran, wenn sie sich schon massieren.

(…)

Der Zweite: Tosende und abertosende Hochrufe –

Der Erste: – und zwar auf Österreich, auf Deutschland und auf der Neuen Freien Presse. Die Reihenfolge war für uns nicht gerade schmeichelhaft, aber es war doch sehr schön von der begeisterten Menge. Den ganzen Abend is sie, wenn sie nicht gerade vor dem Kriegsministerium zu tun gehabt hat oder auf dem Ballplatz, is sie in der Fichtegasse Kopf an Kopf gedrängt gestanden und hat sich massiert.

Der Zweite: Wo nur die Leut die Zeit hernehmen, staune ich immer.

Der Erste: Bittsie, die Zeit is so groß, daß dazu genug Zeit bleibt! Also die Nachrichten des Abendblatts wurden immer und immer wieder erörtert und durchgesprochen. (…)

Der Zweite: Die Hauptsache sind jetzt die Straßenbilder. Von jedem Eckstein, wo ein Hund demonstriert, will er (der Chefredakteur Moriz Benedikt) ein Straßenbild haben. Gestern hat er mich rufen lassen und hat gesagt, ich soll Genreszenen beobachten. Aber grad das is mir unangenehm, ich laß mich nicht gern in ein Gedränge ein, gestern hab ich die Wacht am Rhein mitsingen müssen – kommen Sie weg, hier geht’s auch schon zu, sehn Sie sich nur die Leut an, ich kenne diese Stimmung, man is auf einmal mitten drin und singt Gott erhalte.

Der Erste: Gott beschütze! Sie haben recht – wozu man selbst dabei sein muß, seh ich auch nicht ein, man verliert nur Zeit, man soll drüber schreiben, stattdem steht man herum. Was ich sagen wollte, sehr wichtig is zu schildern, wie sie alle entschlossen sind und da und dort reißt sich einer los, er will ein Scherflein beitragen um jeden Preis. Das kann man sehr plastisch herausbringen. Gestern hat er mich rufen lassen und hat gesagt, man muß dem Publikum Appetit machen auf den Krieg und auf das Blatt, das geht in einem. Sehr wichtig sind dabei die Einzelheiten und die Details, mit einem Wort die Nuancen und speziell die Wiener Note. Zum Beispiel muß man erwähnen, daß selbstredend jeder Standesunterschied aufgehoben war und zwar sofort – aus Automobile haben sie gewinkt, sogar aus Equipagen. Ich hab beobachtet, wie die Dame in der Spitzentoilette aus dem Auto gestiegen is und der Frau mit dem verwaschenen Kopftuch is sie um den Hals gefallen. Das geht schon so seit dem Ultimatum, alles is ein Herz und eine Seele.

Stimme eines Kutschers: Fahr füra Rabasbua vadächtiga –!

Der zweite Reporter: Wissen Sie, was ich beobachtet hab? Ich hab beobachtet, wie sich Gruppen gebildet haben.

Der Erste: No und –?

Der Zweite: Und ein Student hielt eine Ansprache, daß jedermann seine Pflicht erfüllen muß, dann hat sich einer aus einer Gruppe gelöst und hat gesagt: »Besser so!«

Der Erste: Nicht übel. Ich kann nur konstatieren, ein großer Ernst breitet sich über der Stadt aus, und dieser Ernst, gemildert von Gehobenheit und dem Weltgeschichtsbewußtsein drückt sich in allen Mienen aus, in denen der Männer, die schon mitmüssen, in denen derer, die noch dableiben –

Eine Stimme: Lekmimoasch!

Der Erste: – und in den Mienen jener, denen eine so hohe Aufgabe zuteil wird. Vorbei die bequeme Lässigkeit, die genußfrohe Gedankenlosigkeit; die Signatur ist schicksalsfroher Ernst und stolze Würde. Die Physiognomie unserer Stadt hat sich mit einem Schlage verändert.

(…)

Der erste Reporter: Nirgends eine Spur von Beklommenheit und Gedrücktheit, nirgends fahrige Nervosität und von des Gedankens Blässe angekränkelte Sorge. Aber ebensowenig leichtherzige Unterschätzung des Ereignisses oder törichte, gedankenlose Hurrastimmung.

Die Menge: Hurra, a Deitscher! Nieda mit Serbieen!

Der erste Reporter: Schaun Sie her, südliche Begeisterungsfähigkeit, gelenkt und geregelt von deutschem Ernst. Das beobacht ich für die City. Sie können für die Leopoldstadt eine aufgeregtere Note wählen.

Der Zweite: Fallt mir nicht ein, ich bin auch mehr für abgeklärtere Stimmungen. Da und dort sieht man, wer ich sagen, einen weißköpfigen Greis, der sinnend entfernter Jugendtage gedenkt, oder ein gebeugtes Mütterchen, das mit zitternder Hand Abschiedsgruß und Segenswunsch winkt. Einer merkt man an, daß sie um einen Sohn oder Gatten bange. Drehn Sie sich um, da können Sie sehn wie sie winken, sie winken effektiv.

(Ein Trupp Knaben mit Tschako und Holzsäbel zieht vorbei und singt: Wer will unter die Soldaten – der ließ schlagen eine Brucken –)

Der Erste: Notieren Sie: Eine hübsche Genreszene. Überhaupt müssen wir trachten, möglichst viel vom Volk zu sagen, der Chef hat erst heute geschrieben, es is die Quelle, in der wir das Gemüt erfrischen.

Eine Gruppe (singend):
Die Russen und die Serben
die hauen wir in Scherben!
Hoch! Nieda! Schauts die zwa Juden an!

Der zweite Reporter: Sie, ich hab keine Lust mehr, Genreszenen zu beobachten. Soll er sein Gemüt an der Quelle erfrischen gehn, wenn er sich traut. Ich bin lieber weit entfernt –

Der Erste: Weit entfernt von Hochmut und von Schwäche, dieses Wort, das wir für die Grundstimmung Wiens geprägt haben – (beide schnell ab.)

(…)

(An der Ecke tauchen die Historiker Friedjung und Brockhausen im Gespräch auf.)

Brockhausen: Just heute habe ich in der Presse eine treffende Anmerkung zu diesem Thema beigesteuert, die mit zwingender Logik einen Vergleich unseres Volkes mit dem französischen oder englischen Gesindel von vornherein ablehnt. Vielleicht können Sie den Passus für Ihre Arbeit brauchen, Herr Kollega, ich stelle ihn zu Ihrer Verfügung, hören Sie: »Was den historisch Gebildeten als aller geschichtlichen Weisheit letzter Schluß tröstend und aufrichtend beseelte, daß nämlich niemals der Barbarei ein endgültiger Sieg beschieden sein kann, das teilte sich instinktiv der großen Menge mit. In den Wiener Straßen hat sich allerdings nie das schrille Johlen eines billigen Hurrapatriotismus vernehmbar gemacht. Hier flammte nicht das vergängliche Strohfeuer der Eintagsbegeisterung auf. Dieser alte deutsche Staat hat seit Kriegsbeginn sich die schönsten deutschen Volkstugenden zu eigen gemacht: das zähe Selbstvertrauen und die tiefinnere Gläubigkeit an den Sieg der guten und gerechten Sache.« (Er überreicht ihm den Ausschnitt.)

Friedjung: Fürwahr, eine treffliche Ansicht, Herr Kollega, die geradezu den Nagel abschießt und den Vogel auf den Kopf trifft. Ich werde es ad notam nehmen. Ei sieh – da hätten wir ja gleich ein Beispiel! Eine patriotisch durchglühte Menge, die in maßvoller Weise ihren Gefühlen Ausdruck gibt, suaviter in re, fortiter in modo,… lat. mild in der Sache, stark in der Form [Das Sprichwort lautet eigentlich umgekehrt: Unerbittlich in der Sache, sanft im Verfahren] wie’s der Wiener Tradition geziemt.

Tja, wir finden bei Karl Krauss alles wieder, was wir von der Kóronaberichterstattung schon kennen: Die Fokussierung auf ein Thema mit regelrechter Dauerberieselung, das Einstreuen geneigter Stimmungsbilder und opulent dargestellter Details (rätselhaftes Fußjucken bei Kindern, Tod von Roy Horn, Überwachungsprogramme auf dem Telefon, jeden Tag neue Hoffnung auf den vorzeitigen Endsieg durch Impfung mit in deutschen Labors entwickelten Zaubermitteln), die Barberei in Nachbarländern und insbesondere Albion, Selbstbeweihräucherung, der Druck der Medienzaren auf die Reporter und die wohlwollende Hofberichterstattung. Gibt es sowas wie Klima- oder Kóronachauvinismus?

 

Grüße an den V-Schutz. Ja, wie ihr seht gibt es ein breites Betätigungsfeld!