Der erste Angriff der Sowjets auf Europa

„Für Preußens deutsche Zukunft war die Haltung Rußlands eine Frage von hoher Bedeutung. Eine polenfreundliche Richtung der russischen Politik war dazu angethan, die seit dem Pariser Frieden und schon früher gelegentlich angestrebte russisch-französische Fühlung zu beleben, und ein polenfreundliches, russisch-französisches Bündnis, wie es vor der Julirevolution in der Luft schwebte, hätte das damalige Preußen in eine schwierige Lage gebracht. Wir hatten das Interesse, im russischen Cabinet die Partei der polnischen Sympathien, auch solcher im Sinne Alexander I., zu bekämpfen“.

So schrieb Fürst v. Bismarck über das Jahr 1862, als er selbst preußischer Botschafter in St. Petersburg war.

„Unsre geographische Lage und die Mischung beider Nationalitäten (Deutsche und Polen) in den Ostprovinzen einschließlich Schlesiens nöthigen uns, die Eröffnung der polnischen Frage nach Möglichkeit hintanzuhalten…“

In diesem Sinne wurde auf Betreiben Bismarcks 1863 eine gegen Polen gerichtete Militärkonvention zwischen Preußen und Rußland durch den General v. Alvensleben abgeschlossen. Es hatte den Zweck, die polonisierende Partei am Petersburger Hof zu demoralisieren und beruhte auf direkter kaiserlicher Entschließung von Alexander I. Nach den Teilungen Polens im 18. Jh. und den Ergebnissen des Wiener Kongresses war die Alvenslebensche Konvention eine Neuauflage des Bündnisses Preußen-Rußland.

Einen Eindruck von der Verteilung der Volksgruppen kann man sich anhand der Karte des Reichstagswahlergebnisses von 1912 machen: Vier oberschlesische, alle großpolnischen Wahlkreise bis auf zwei und sechs westpreußische Wahlkreise waren an Polen gegangen.

Nun könnten demokratische Illusionisten annehmen, dieser polenfeindliche Affekt der preußischen Politik habe sich mit dem Übergang von der Monarchie zur Republik 1918 verflüchtigt. Doch wer das glaubt, der irrt. Die Weimarer Republik hat in ihrer Wirtschaftsverfassung unter dem Druck des Versailler Diktats nur Verschlechterungen hervorgebracht, genauso war es um die Außenpolitik bestellt.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen waren 1920 durch schwebende Verfahren belastet: Der Hintergrund waren die Versailler Friedensbedingungen, die die Abtretung Oberschlesiens an Polen und eine Volkabstimmung im südlichen Ostpreußen vorsahen. Auf Grund deutscher Proteste wurde auch für Oberschlesien eine Volksabstimmung für den März 1921 anberaumt. Nach einem ersten polnischen Aufstand im August 1919 mußte Deutschland die Reichswehr aus Oberschlesien abziehen. Die Verwaltungsmacht übernahm eine „Interalliierte Kommission für Regierung und Abstimmung“, die eine einigermaßen geordnete Volksabstimmung gewährleisten sollte. Polen zwang insbesondere ehemalige deutsche Amtsträger aus Großpolen und Westpreußen auszuwandern. Es verblieben in der Zwischenkriegszeit etwa eine Million Deutsche in Polen, zeitweise hatten sie acht Abgeordnete im Sejm. So ein naturwüchsiges Nebeneinanderleben wie vor 1772 im locker verfaßten polnisch-litauischen Vielvölkerstaat entwickelte sich nicht mehr, die zunehmende Regelungswut der Staaten im 20. Jahrhundert war Gift für den Frieden.

Über die Zugehörigkeit des südlichen Ostpreußens mussten die Bewohner am 11. Juli 1920 abstimmen. Am 10. Januar 1920 verließ die Reichswehr das Abstimmungsgebiet, englisches und italienisches Militär rückte ein.

Währenddessen verfertigte der Chef des Truppenamtes der Reichswehr, General von Seeckt eine Niederschrift mit dem verheißungsvollen Titel „Deutschland und Russland“:

„Nur im festen Anschluß an ein Groß-Rußland hat Deutschland die Aussicht auf Wiedergewinnung seiner Weltmachtstellung.“ Ob uns das heutige Russland in seinem inneren Aufbau gefällt, oder nicht, das spiele jetzt keine Rolle. In der gegebenen Situation sei Polen der Todfeind, der altpreußische Länder und Städte an sich gerissen habe. Damit war insbesondere Westpreußen gemeint, das den Zugang Polens zum Meer eröffnete.

Am 10. Februar 1920 war General Haller die Hauptperson der feierlichen Zeremonie der „Heirat Polens mit dem Meer“: unter Anwesenheit von hohen polnischen Staatsdignitären warf er auf den Spuren der venezianischen Dogen in Putzig einen goldenen Ring mit dem Staatswappen ins Meer. Gemälde von W. Kossak

Kurz vor der Volksabstimmung im südlichen Ostpreußen kam es im Juli und August zu einer dramatischen Entwicklung. Bei Dzisna standen sich am 4. Juli 1920 sowjetrussische und polnische Truppen gegenüber, als die Kämpfe des Russisch-polnischen Krieges ausbrachen. Während des schnellen Vormarsches der Roten Armee, am 11. Juli 1920 fand die Abstimmung in Ostpreußen statt. Die Frage lautete, ob man sich für Polen oder Ostpreußen (nicht das Deutsche Reich) entscheiden wolle. Die Antwort fiel, unter dem Eindruck des russischen Vormarsches wie erwartet, aus: In den westpreußischen Kreisen stimmten 92,28 v. H. für Ostpreußen, im ostpreußischen Bezirk 97,5, davon im eigentlichen Masuren 99,3 v. H. Am 12. August 1920 sprach die Botschafterkonferenz die beiden Abstimmungsbezirke dem Deutschen Reiche zu. Ebenfalls am 12. August erreichte die Rote Armee Warschau. Polen bestand nur noch aus einem schmalen Streifen Land zwischen Schlesien bzw. Pommern und der Weichsel.

Die Rote Armee nahm am 12. August an der ostpreußischen Grenze Kontakt zur Reichswehr auf und bat um Nachschubgüter wie Lebensmittel, Transportmittel und Karten vom Kriegsschauplatz. Russische Kommissare versprachen, die ehemals deutschen Gebiete an Deutschland zurückzugeben. In alle von Deutschland beanspruchten Gebiete müsse die Reichswehr einmarschieren bzw. es müssten lokale Räteregierungen etabliert werden. Die Reichswehr dachte nicht daran, weil die politische Führung französische Racheakte im Ruhrgebiet fürchtete, und weil sich im ostpreußischen Abstimmungsgebiet allierte Truppen befanden.

Die Frontlinie bildete für eine Woche zwischen dem 12. und 17. August die Weichsel bei Warschau. Gerade zu diesem kritischen Zeitpunkt am 17. und 18. August kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Polen im Rücken der Front, insbesondere in Kattowitz. Ein Schelm, der in diesem internationalen Ränkespiel an Zufall glaubt.

Die gestrichelten Linien zeigen den Angriff der sowjetrussischen Truppen und die Stellungen kurz vor der Weichsel. Links hinter der dicken Linie die polnischen Ausgangsstellungen am 17.08.1920. Die durchgehenden Linien zeigen die Rückeroberung durch die Polen Ende August. Polens Existenz stand auf Messers Schneide.

Am Abend des 17. August begannen die Polen nach Erhalt französischer Waffenlieferungen aus ihren Ausgangsstellungen an der Weichsel vorzurücken, das „Wunder an der Weichsel“ nahm seinen Anfang.

Zwischen dem 18. und dem 26. August 1920 eroberten die Polen den Ostteil ihres Landes von den Sowjetrussen zurück. Auf die Reichswehr hatten die Rotarmisten einen wenig professionellen Eindruck gemacht. Insofern war man in Ostpreußen nicht überrascht, dass die Russen so schnell wieder zurückfluteten, wie sie eingerückt waren. 50.000 Rotarmisten flüchteten sich über die ostpreußische Grenze, wurden dort entwaffnet und interniert.

Die Ereignisse an der polnischen Ostfront spiegelten sich in Schlesien. Am 19. und 20.8.1920 wurde ein Teil des Kreises Kattowitz von polnischen Aufständischen besetzt, was den Widerstand deutscher Freischärler hervorrief. Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres floß das Blut in Strömen. Am 26.8.1920 nach der russischen Niederlage ließen schlesische Demonstranten ihren Frust über den polnischen Sieg heraus und besetzten das polnische und das französische Konsulat in Breslau.

Die SPD-geführte preußische Regierung, die für die Ordnung in Breslau zuständig war, versagte bei der Niederschlagung der Unruhen völlig, ebenso wie die Reichsregierung. Reichspräsident Ebert ließ sich alle Zeit der Welt und erließ erst als alles vorbei war, am 6. September 1920 eine Verordnung zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Breslau. Ein vom Ministerium des Innern zu ernennender Reichskommissar wurde ermächtigt, die Ordnung in der Stadtgemeinde Breslau wieder herzustellen.

Das Ergebnis der Volksabstimmung in Oberschlesien wurd von den Siegermächten so festgelegt: „Oberschlesien wird so geteilt, dass Polen und das deutsche Reich je einen Anteil an dem Gebiet erhalten, der dem Abstimmungsergebnis prozentual entspricht. Die Grenze wird zwischen den mehrheitlich polnischen und deutschen Gemeinden gezogen“. Damit fielen im Ergenis 90 % des oberschlesischen Kohlevorkommens sowie der Zink-, Blei- und Silberhütten an Polen.

Deutschland äugte in den 20er Jahren neugierig auf jede europäische und außereuropäische Widerstandsbewegung gegen die Ententemächte. Immer wenn ein kleiner David gegen den alliierten Goliath triumphierte, schöpfte die deutsche Führung neue Hoffnung auf Revanche. Immer wenn Goliath einen David wieder zur Räson brachte, so verzagte man in Berlin. Der Polenfeldzug der Roten Armee war nach der ungarischen Räterevolution, die von rumänischen und tschechoslowakischen Truppen auseinandergejagt wurde die zweite verpatzte Gelegenheit, wo sich Germania aus den Fesseln von Versailles und St. Germain hätte herauswinden können. Der nächste Versuch der Entfesselung der teutonischen Kräfte, nämlich die Annäherung von Deutschland und Russland über den Vertrag von Rapallo ging im Desaster des Ruhrkampfs unter. Erst 1922/23 zeigten die Alliierten Nerven: Die Türkei zerriß den Friedensvertrag und Litauen führte Frankreich im Memelland vor.

Daß eine polnische Niederlage gegen die Sowjets den Weg der Roten Armee nach Deutschland freigemacht hätte, verdrängte man in Berlin. In seinem Tagesbefehl vom 2. Juli 1920 schrieb der sowjetische General Tuchatschewski: „Das Schicksal der Weltrevolution wird sich an der westlichen Front entscheiden. Der Weg zum Weltbrand führt über die Leiche Polens.“ Bereits im Oktober 1918 phaselte Lenin von der Metapher der „Zwei Kücken unter einer Schale“, Deutschland und Russland sollten gemeinsam die imperialistische Schale zerbrechen. Großbritanniens Premier Lloyd George schätze die Lage 1919 so ein: „Die größte Gefahr der gegenwärtigen Situation ist, dass Deutschland sein Los mit dem Bolschewismus verbünden und seine Ressourcen, sein Wissen, seine riesige Organisationskraft in den Dienst revolutionärer Fanatiker stellen könnte. Diese Gefahr ist keine bloße Schimäre.“

Mit dem Wunder an der Weichsel wurde die Annexion Osteuropas und der Ostzone nicht aufgehalten, nur um zwanzig Jahre verschoben.

 

Grüße an den V-Schutz. Den Eintrag sollte man sofort an den Zensur- und Aussehensminister weiterleiten.