Gullivers Abenteuer in Treva (Zweites Kapitel)

Im ersten Kapitel hatte ich von meinen Reisen nach Norwegen, von dem grausligen Schiffbruch vor der holsteinischen Küste und von meinem ersten Valutageldwechsel berichtet.

Ich hatte also endlich Deutschmark in der Tasche und beschloß zuerst etwas zu essen, bevor ich die Gegend erkunden und meine Kleidung ergänzen würde. Also ehrlich, ich hatte mir die kapitalistische BRD etwas anders vorgestellt, als wie ich die aufgeräumte Tristesse am Marktplatz vorfand. Etwas lebendiger, quirliger. Statt dessen sah alles nach eingeschlafenen Füßen aus. Der Ali-Baba-Döner war noch nicht offen. Die Pizzeria Tripoli und Grill Maxx ebenfalls noch zu. Hier ging das Leben scheinbar erst mittags los, wenn überhaupt.  Gab es hier gar keine deutschen Wirtschaften, ist hier oben die Türkei? In der Nähe war eine Kaufhalle: Kaufland. Ich war nach meiner Ausschiffung mit einem Troyer, also einem Seemannspullover, und einer Arbeitshose angetan. Damit war ich couturemäßig noch am oberen Ende der innerstädtischen Kundschaft angesiedelt (die 320er Mercedes-Limousinen  der gehobenen Mittelschicht standen vor dem ALDI am östlichen Stadtrand, aber das sah ich erst später). Ich war gefühlt der einzige, der keinen Jogginganzug anhatte. Nicht ganz, ein älterer Herr, vermutlich ein Türke, war mit einem schon leicht abgeschabten Sakko angetan.

Mir fiel das Referat unseres Generalsekretärs wieder ein: „Wirtschaftliche Instabilität, politische Labilität, geistiger und kultureller Verfall traten in den kapitalistischen Ländern immer deutlicher hervor.“ Mein Magen knurrte, wie das bei den Werktätigen im Imperialismus auf der Jagd nach Schnäppchen, auf der Flucht vor Monopolprofiten immer öfter der Fall zu sein scheint.

In der Kaufhalle waren am Eingang einige Stände: ein Imbiß. ein Bäcker, ein Schuhmacher und ein Fleischer. Ich wollte mal wieder was Warmes und entschied mich für den Imbiß. Bockwurst im Brötchen gabs nicht. Ich mußte mich zwischen Pizzaecken und Currywurst entscheiden.  „Ham sie ne Currywurst?“ Die junge rundliche Verkäuferin mit sehr schönen prallen Lippen und braunen Rehaugen sah mich mitleidig an. „Sie sind wohl aus dem Osten?“ Irgendwas hatte ich falsch gemacht, aber was? Gut daß meine Offiziere den Lapsus nicht mitbekommen hatten. „Die Rentner aus dem Osten fragen immer, ob es was gibt, aber bei mir gibt es alles, was ausgelegt ist. Um gleich die nächste Frage vorwegzunehmen: Rabatte gibts nicht.“ Sie suchte eine extra große Wurst aus, zerschnipselte sie in einer vom westdeutschen Monopolkapital hergestellten Maschine, goß Soße drüber und streute Curry drauf. „So, junger Mann, guten Appetit“. Es schmeckte. Ich bestellte noch eine Pizzaecke und eine Fanta, die Pizza war allerdings gefühlt aus Pappe, offensichtlich hatte der Hersteller seinen Profit maximiert.

Ich überlegte, ob ich noch in die Kaufhalle gehe. Mir fiel aber gerade noch rechtzeitig ein, daß Genosse Honecker in seinem Referat vor dem monopolkapitalistischen Konsumterror gewarnt hatte. Überhaupt: Ich hatte andere Probleme zu lösen, als mich von bürgerlichem Firlefanz und buntem Verpackungsblendwerk beeinflussen zu lassen: Zum Beispiel, wo bleibe ich unter den inflationären Bedingungen des Imperialismus heute Nacht?

Ich überlegte, ob ich nach einer Anlaufstelle der DKP suchen solle, was mir aber zu riskant war. Ich durfte nicht vergessen, daß ich Schwert und Schild der Partei bin und ich wollte nicht riskieren in eine gestellte Falle zu laufen. Ich suchte also nach einer billigen Pension, nach einem Campingplatz oder einer Jugendherberge. Da war das Rumstreifen im Stadtzentrum vermutlich zwecklos. Im Handbuch des Kundschafters (was ich leider nicht bei mir hatte) stand, daß in der Bahnhofsnähe oft geeignete Anhaltspunkte zu finden seien, zum Beispiel ein Stadtplan. Der Bahnhof war nicht weit entfernt, die Bahnlinie zerschnitt die Stadt etwa in der Mitte. Einen Stadtplan fand ich nicht, durch eine Unterführung konnte man zur anderen Stadtseite gelangen, wenn, ja wenn man sich durch das städtische Lumpenproletariat hindurchgewurstelt hatte, das am Eingang rumlungerte. Bei uns im Arbeiter- und Bauernstaat gibt es sowas nicht. Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, daß er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.

Inzwischen war ich auf der anderen Seite der Stadt angekommen. Als erstes sah ich nach dem Auftauchen aus der Unterführung das SPD-Kreisbüro. Es wäre ja auch für meine Berichterstattung an die Genossen in der Normannenstraße interessant mal reinzuschauen. Es war ein kleiner Raum, in dem eine blonde oder gefärbte Frau mittleren Alters residierte. Sie erinnerte mich etwas an die neue Sprecherin der Aktuellen Kamera Angelika Unterlauf mit ihrer Eulenfrisur. Sie ließ sich einen Augenblick Zeit, bevor sie mich begrüßte und darauf hinwies, daß sie hier neu wäre und sich noch etwas einarbeiten müßte. Sehr viel Arbeit konnte ich nicht erkennen. An der Wand stand ein Regal mit Broschüren, auf dem ansonsten leeren Schreibtisch standen ein Kopierer und ein Telefon. Die hatten im Westen schon Apparate mit Tasten. Das wars. Ich verkniff mir die Frage, ob sie über Kopien Buch führen müsse, vielleicht war das beim Klassenfeind ja anders geregelt, als bei uns. Ja war sie nun überhaupt Klassenfeind?

„Hat der Kreisverband Probleme mit den rechten Führern in Bonn?“, fragte ich, um die Sache zu klären und ins Gespräch zu kommen. – „Wir haben schon die rechten Führer, die sind ja alle auf dem Bundesparteitag gewählt worden. Ich kann ihnen das neue Grundsatzprogramm mitgeben, ansonsten muß ich mal den Kreisvorsitzenden anrufen, den können sie ja selbst fragen, der war auf dem Parteitag.“ Sie tippte seine Nummer ins Telefon. In diesem Moment flog die Türe auf und eine Frau mit einer Lady-Day-Frisur, einem schiefen Lächeln, einem Glasschüsselchen und einer grünen Glasflasche kam reingestürmt. Die Kreissekretärin legte den Hörer wieder auf: „Hallo Tilly, ich habe gerade einen Genossen hier, der sich für die SPD interessiert, kannst du einen Moment warten?“ Tilly drehte sich zu mir um. „Was haben Sie denn  für Hände? Sie arbeiten wohl in der Kombüse und spülen immer die Teller? Sie müssen Palmolive nehmen, denn nur da ist natürliches Protein drin.“ Sie füllte etwas grünen Schleim aus der Flasche in das Schälchen und schnappte nach meiner Hand. Wupps steckte die in dem Schüsselchen. Meine Fingernägel waren nicht geschnitten, Scheiße. Sie übersah das und badete meine Hände in ihrem Erfolg „Das pflegt die Hände schon beim Spülen, das haben Tests mit Hautärzten bewiesen. Die natürlichen Proteine von Palmolive, die lohnen sich.“ Uhh. Die ist taff, die würde bei uns keine Fingerchen baden, sondern wäre vielleicht Instrukteurin bei der FDJ-Kreisleitung oder Chefin von der Kreisplankommission. Die müßte ich nach einer Übernachtung fragen.

(Fortsetzung folgt)