Meine Einsätze als Regierungsdemonstrant

Ich kann mich in die Lage derer, die für die Ampel gerade strammstehen müssen, gut hereinversetzen. Mehr als zwanzigmal bin ich am Ersten Mai aufgeboten worden, um an der Tribüne vorbeizulaufen, Etwa zwanzigmal war ich zu verschiedenen Anlässen auf dem Buchenwald. Rund fünfmal habe ich am Fackelzug zum Republiksgeburtstag teilgenommen. Etwa 400 Fahnenappelle in wechselnden Einrichtungen kommen dazu. mehrere tausendmal habe ich umstrittene Lieder gesungen, wie per esempio: „Sonnenuntergang an der schönen blauen Ostsee, nur ein Sternlein wacht, Seepolizei, die gibt acht. Das Schöne und Gute zu schützen, stehn wir auf dem Meere zur Wacht, es wird unsern Feinden nichts nützen, wir sind eine eigene Macht“. Man fragte sich, warum der Liebe Gott kein Seebeben veranstaltete.

Die Einsätze waren geteiltes Leid. Denn es mußte ja immer die ganze Schulklasse oder der Betrieb los. Am Ersten Mai gab es einen Plastikbeutel mit einem Leberwurstbrot und einem Blutwurstbrot, was in Thüringen keine Strafe ist. In Berlin sah das natürlich wegen vollkommen fehlender Herstellungstradition ganz anders aus. Da gab es als vorgezogene Höllenstrafe des Politbüros und des ZK Zementwurst und Gummiwurst.

Am Ende des Umzugs brannten zahlreiche Roste und man konnte sich eine Bratwurst kaufen und ein Bier dazu trinken. Letzteres wurde ab 1972 nicht mehr mit Hopfen, sondern mit Ochsengalle hergestellt. Nach wenigen Tagen war in der Flasche unten ein Trub. Eine typische Handbewegung war das prüfende Umdrehen der Flasche.

Das Tragen von Fahnen und Konterfeis war nicht sehr beliebt. Es gab da eine jüdische Anekdote: Abramowitsch sollte das Bild von Tschernenko tragen. Er wehrte sich mit der Begründung, daß er vor zwei Jahren das Bild von Breschnjeff getragen hatte, kurz darauf wäre der gestorben. Vor einem Jahr hätte er das Konterfei von Andropoff geschleppt, kurz darauf wäre der tot gewesen. Seine Kollegen darauf: „Abramowitsch, du hast goldene Hände!“ Tschernenko war nach einem Jahr übrigens auch tot.

Beim Republiksgebutstag bekam man immer eine Fackel, er wurde abends veranstaltet, wenn es dunkel war. Auf dem Weg in die Stadt rauchten wir heimlich unsere ersten Zigaretten. Piu romantico.

Auf dem Buchenwald hatten die Lehrer immer zu kämpfen, weil in der Pubertät viel mit den Mädchen rumgeblödelt wurde. Es gab so die eine oder andere Ermahnung. Blutwurst und Leberwurst gab es da oben nicht. Was ich etwas skurril fand: Vor zwei Jahren war am Weimarer Rathaus ein riesiges Banner mit Buchenwald angebracht, Davor rauchten drei Bratwurststände vor sich hin. Die Doppelbödigkeit solcher Kompositionen zu erahnen, ist dem forschen Grünschnabel nicht gegeben. Mir lag auf der Zunge, einen Brater zu fragen, ob es Menschenfleisch gibt. Ich konnte den Tag keine Wurst essen. Da oben sind ja nicht nur Kommunisten, sondern auch Unschuldige umgekommen.

So als Fazit: Der eigentliche Anlaß der Aufmärsche spielt in der Erinnerung keine Rolle, Das wird in Echtzeit nicht groß anders gewesen sein.

Grüße an den Inlandsgeheimdienst: „Man kann nicht für jedermann leben, besonders für die nicht, mit denen man nicht leben möchte.“ (Geh. Rath v. Goethe)