In der CDU ist der marxsche Bourgeois nicht präsent

David Boos hat auf Tichy zu erklären versucht, warum CDU und Grüne ein politisches Traumpaar sind. „Ein zentrales Missverständnis der heutigen konservativen Kräfte ist der Irrglaube, das Bürgertum wäre an sich konservativ – oder zumindest liberal-konservativ – eingestellt. Das aber trifft nur für einen geringen Teil des Bürgertums zu und zwar meist jenen Teil, der am unteren Ende der Wohlstandsskala aus der Bürgerlichkeit zu fallen droht, oder jenem gut situierten (und meist pensionierten) Teil, dem in dem Maße seine Bürgerlichkeit abhanden kam, in dem er seine Anpassungsfähigkeit an den Zeitgeist verlor.“

Zum Beweis seiner These zitierte er den jungen Marx, ohne im folgenden dessen strictly Definition des Bürgertums zu verwenden:

„Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“

Boos faßt diesen genialen Gedanken am Schopf und folgert ausufernd:

„Denn das radikale Bürgertum hat zunehmend Erzeugung und Erhalt von Wohlstand als ein definierendes Merkmal abgestriffen und ist mittlerweile vollends zu dessen ideologisch-revolutionärer Grundgesinnung zurückgekehrt. Wohlstand mag zwar noch immer erstrebenswert sein, bedeutet für das neue Bürgertum aber nicht mehr vererbbaren Grundbesitz, sondern die Freiheit zum Konsum. Viel wichtiger ist nun eine ideologische Grundhaltung, das Bekenntnis zu Revolution und Dekonstruktion der bestehenden Verhältnisse, die Ablehnung und Zerstörung von Traditionen.

Es ist aus diesem einfachen Grund, dass das Bürgertum in seiner neuesten Ausformung die Speerspitze des gesellschaftlichen Umbaus bildet, oder diesen zumindest begrüßt. Tagträumer sind nicht die neuen Bürger, die allem Versagen zum Trotz immer wieder – gerade in den bürgerlichsten Regionen Deutschlands – den Grünen und ihren Vorfeldparteien die Stimme geben, sondern all jene Konservative, die glauben, diese Bürger müssten erst „aufwachen“. Dass eine Mehrheit sich immer wieder bei Wahlen für die Zerstörung des alten Deutschlands ausspricht, ist kein Versehen, oder ein Mangel an Optionen, sondern Absicht eines Bürgertums, das frei von aller Wohlstandsmakulatur der Nachkriegsjahre seine Erfüllung wieder im kompromisslosen Bekenntnis zur permanenten Dekonstruktion findet.“

Mit allem Respekt: Hier erklärt uns David Boos ein zentrales Phänomen, aber ich habe Zweifel, daß die Sache so einfach und eindimensional ist. Das fängt mit der Definition von Bürgerlichkeit an und endet mit der Anatomie der Neuen Mitte.

Karl Marx hatte ein sehr klares Bild vom industriellen Kapitalisten, welches mit der obigen Beschreibung schon umrissen ist. Er grenzte diesen vom zunftseligen Handwerker ab, vom Lohnarbeiter und vom Landwirt sowieso, „Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“ So schrieb er es 1848. Bereits August Bebel sah die Dienstleister 1878 in der ersten Auflage „Die Frau und der Sozialismus“ anders, nämlich überwiegend als Staatsabhängige:

Mit der Gewerbefreiheit anläßlich der Bismarckschen Reichseinigung wären die Existenzgrundlagen des bis dahin ungemein zahlreichen Handwerker- und Kleinbauernstandes zerstört worden.

„In diesem Verzweiflungskampf suchen viele möglichst Rettung in der Veränderung des Berufs. Die Alten können diesen Wechsel nicht mehr vollziehen, Vermögen können sie in den seltensten Fällen ihren Kindern hinterlassen, so werden die letzten Anstrengungen gemacht und die letzten Mittel aufgeboten, um Söhne und Töchter in Stellungen mit fixem Einkommen zu bringen, wozu ein Betriebskapital nicht nötig ist. Dies sind die Beamtenstellen im Reichs-, Staats- und Kommunaldienst, das Lehrfach, der Post- und Eisenbahndienst, die höheren Stellen im Dienst der Bourgeoisie….., ferner die sogenannten liberalen Berufe: Juristen, Ärzte, Theologen, Schriftsteller, Künstler, Architekten, Lehrer und Lehrerinnen usw. Tausende und Abertausende, die früher einen gewerblichen Beruf ergriffen hätten, sehen sich jetzt, weil keine Möglichkeit zur Selbständigkeit und einer auskömmlichen Existenz mehr vorhanden ist, nach irgendeiner Stellung in den erwähnten Berufen um. Alles drängt zur höheren Ausbildung und zum Studium. (….) Diese Jugend wird zur Kritik an dem Bestehenden herausgefordert und gereizt und hilft die allgemeine Zersetzungsarbeit wesentlich beschleunigen.“

Bebel nahm an, daß alle, die er zum Gelehrten- und Künstlerproletariat rechnete, sich der Sozialdemokratie anschließen würden. Zum kleinen Teil ging diese Hoffnung auf, zum großen Teil aber eben nicht. Es bildete sich eine antisozialdemokratische, antimarxistische, antikapitalistische, antiklerikale, antiindustrielle und fortschrittsskeptische Bewegung, eine Neue Mitte, die die von Bebel hochgeschätzte Zersetzungsarbeit leistete, ohne sozialdemokratisch, liberal oder konservativ zu sein. Die war vor allem staatsgläubig, wie sich das in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, im Stalinismus und in der Berliner Republik manifestierte.


Die deutsche Sprache ist an manchen Stellen vage. Exemplarisch ist der Begriff des Bürgers ganz überwiegend mit ungenauem Sinn verwendet worden, als sich selbst erklärend, das eine Mal als Antonym zum Arbeiter, manchmal als Buzzwort für den mündigen Staatsbürger und sonst ohne jeden Sinn. Aus der Kritik an der Bürgerlichkeit saugten viele Rattenfänger ihren Honig. Exemplarisch antibürgerlich gab sich Herrmann Hesse, ohne daß er je einen präzisierten Begriff verwendet hätte. Der Begriff der Bürgerlichkeit ist bei Hesse ein kultureller Begriff, kein ökonomisch durchdachter oder gerechtfertigter, der Bürger ist bei Hesse einfach ein verzopfter Standesgenosse, und nicht jener Bürger, der als Bourgeois Waren produziert, der als ausbeutende Klasse der Arbeiterklasse gegenübersteht, auch nicht der idealisierte verantwortungsvolle Staatsbürger der deutschen Staatslehre. Bereits Karl Marx gab den unentwickelten Zuständen in Deutschland die Schuld, daß sich keine moderne Forschung zur politische Ökonomie in Deutschland entwickelte; daß alles politische Denken um die tradierten Begriffe des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit kreiste.

Herrmann Hesse war Württemberger, und insofern in einer seit dem Mittelalter gewachsenen Stadtkultur und Stadtwirtschaft sehr verwurzelt. Biedere selbstgerechte Handwerksmeister, arme Handwerksburschen und Gesellen, Kaufleute und Krämer, Ackerbürger, Zolleinnehmer, Postillione, Stadtsoldaten und Nachtwächter, Lehrer, Hausangestellte, Tagelöhner, eine insbesondere in der Geburtsstadt von Hesse – Calw – pietistisch orientierte Geistlichkeit, aber kaum industrielle Kapitalisten und Industriearbeiter. Ludwig Richter und Spitzweg haben die süddeutsche Stadt immer wieder treffend ins Bild gesetzt, eben eine vorbürgerliche Scheinromanze mit Beschaulichkeit, einer gewissen geografischen Enge und harter Traditionspflege. Der industrielle Kapitalist aus dem kommunistischen Manifest, der über den Erdball jagt, um irgendetwas in Mengen auf den Weltmarkt zu werfen, der alle standesgesellschaftlichen Werte und Regeln über den Haufen wirft, der kam zu Hesses Zeiten in Süddeutschland nur am Rande vor.

Selbst Narren waren in Zünften organisiert, es ging ihnen weniger um den Gott Jokus, sondern um das zähe Festhalten am mittelalterlichen archaischen Brauchtum. Hinter standardisierten Holzmasken verborgen, bar jeder Individualität, springen die Rottweiler Narren gemäß tradierten Riten durch ihre Stadt, jede Maske und jede Schelle muß von der Disziplinarkommission abgenommen werden. Jede entindividualisierte Maske hat ein numeriertes Zugband. Wenn ein Narr beim Umzug aus der Reihe tanzt, wird das Zugband von den Tugendwächtern abgerissen und der außer Rand und Band geratende Narr wird anhand der Nummer identifiziert und vor der Disziplinarkommission verklagt.

In diesem vorbürgerlichen Zusammenhang spielte sich die Bürgerlichkeit bei Herrmann Hesse als sauberkeitsbesessener und ordnungsvernarrter Exzess von Zwangscharakteren ab. Staubphobie und Strammstehen von Blumenkübeln im Treppenhaus, Leistungsdruck für Gymnasiasten, Druck, Zwang, Ordnung, Sauberkeit das war für Herrmann Hesse Bürgerlichkeit, um dieser die Freiheit der Bohéme gegenüberzustellen. Max Weber beschrieb diese Traditionen nicht als Bürgerlichkeit, sondern als puritanische Tyrannei.


Von diesem Definitionswirrwar ein Schritt zurück. Das statistische Bundesamt beziffert die industriellen Betriebe in Deutschland auf 300.000. Einschließlich der Familien kann man die industriellen Kapitalisten auf 1 bis 2 % der Bevölkerung eingrenzen. Daß davon besonders viele in der Union vertreten sind kann ich nicht bestätigen, obwohl ich zwischen 1990 bis 2009 das Innenleben eines Kreisverbands kennengelernt habe. Auch was das Wahlverhalten betrifft. Die Union muß sich die industriellen Kapitalisten mit der AfD, den Freien Wählern, der FDP und auch sogar mit den Linksparteien teilen. Die CDU mit der marxschen Kapitalistenklasse in einen engen Zusammenhang zu bringen, scheitert in der Praxis, Man sehe sich nur die wechselhaften politischen Äußerungen von Herrn Trigema-Grupp an und reibt sich die Augen.

Ich habe mal die 46 Kreistagskandidaten der CDU durchgeschaut, es gibt zwar einige Freiberufler und Handwerker, einen Industriellen sucht man vergeblich. 26 Bewerber kann man dem Öffentlichen Dienst zuordnen, einige haben es mit erlernten Berufen verdeckt, zum Beispiel der Mellinger Bürgermeister oder der Geschäftsführer einer städtischen Wohnungsgesellschaft,

Einen Zusammenhang der Union mit dem marxschen Bourgeois herzustellen ist also super gewagt. Die „ideologische Grundhaltung, das Bekenntnis zu Revolution und Dekonstruktion der bestehenden Verhältnisse, die Ablehnung und Zerstörung von Traditionen“ sehe ich nicht aus der Perspektive des über den Erdball fegenden Industriellen, sondern des ängstlichen Staatsangestellten, der Angst hat seinen Job zu verlieren, wenn er nicht mit den journalistischen Wölfen heult.

Insofern ist ein Schwarz-grünes Bündnis kein Aufbruch in eine wie immer geartete Bürgerlichkeit, sondern zum Scheitern verurteilt. In Österreich, wo man schwarz-grün regiert sehen wir folgende Bilanz:

Wahl 2019aktuelle Umfrage
ÖVP37,5 %19 %
Grüne13,9 %9 %

Eine Erfolgsbilanz sieht anders aus. Die Grünen schreddern mit ihrer Steinzeitmentalität jeden Bündnispartner, egal ob es Spezialdemokraten, Christ- oder Liberalbolschewisten sind, Prof. Rieck hat das Geheimnis ihrer Dominanz herausgefunden. Die Grünen und die AfD dienen ihrer eigenen Anhängerschaft, während die übrigen Parteien der Nationalen Front in fremden Revieren wildern wollen und die eigene Klientel geringschätzen. Extrem hat man das gerade bei der Leipziger CDU gesehen, die Werbetafeln in arabischer Schrift gehängt hatte.

Grüße an den Inlandsgeheimdienst: „Natürlich ist’s, daß der Bürger von dem regiert sein will, der mit ihm geboren und erzogen ist, der gleichen Begriff mit ihm von Recht und Unrecht gefaßt hat, den er als seinen Bruder ansehen kann.“ (Geh. Rath v. Goethe)