Ein Tummelfeld für Tierfreunde und Ideologen

An einem sonnigen Sonntagnachmittag in den frühen 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts stand ich mit meinem Vater am Waldrand, als ein Mann mit Lodenmantel, Knickerbockern, grünen Strickstrümpfen und Fernglas den Wald betrat. Offensichtlich jemand, der vorhatte Tiere zu beobachten. „Da geht ein Nazi in den Wald“ kommentierte mein Vater kurz und knapp, obwohl er die Biografie des Naturfreunds nicht kannte. Interesse für Tiere in der Natur und Hang zum Nationalsozialismus waren für die ältere Generation, die im Tausendjährigen Reich großgeworden war, offensichtlich noch zwei Seiten derselben Medaille. Wie kam es zu dieser innigen Verbindung?

Seit den späten 30er Jahren des 19. Jahrhunderts etablierte sich der Tierschutz in Deutschland, der sich an den erfolgreichen Tierschutzbestrebungen in England orientierte. In Stuttgart wurde 1837 der erste deutsche Tierschutzverein gegründet. Zwischen 1838 und 1865 hatten fast alle deutschen Bundesstaaten bereits Tierschutzbestimmungen erlassen: Das Königreich Sachsen zuerst, die beiden Mecklenburg zuletzt. Lediglich in der Stadt Lübeck blieb es bis zur Reichseinigung bei verstreuten Bestimmungen über Hundefuhrwerke und Fuhrwerke im allgemeinen.

Im Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann wurde 1845 der tierquälende bitterböse Friederich als warnendes und abschreckendes Beispiel dargestellt:

Er fing die Fliegen in dem Haus
Und riß ihnen die Flügel aus.
Er schlug die Stühl’ und Vögel tot,
Die Katzen litten große Not.
Und höre nur, wie bös er war:
Er peitschte seine Gretchen gar!

Er peitschte auch den Hund und wurde in der Kindergeschichte in ausgleichender Gerechtigkeit vom Hund gebissen. Wie man sieht, war Respekt vor dem Tier ein Erziehungsideal des Spätbiedermeiers. Das Tier wurde nicht als solches erkannt und es herrschte die Tendenz Mensch und Tier unter eine allgemeine menschliche Moral zu subsumieren.

1870 erfolgte die Reichseinigung. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 sah im § 360 bis 50 Taler Geldstrafe oder Haft für das boshafte Quälen und Mißhandeln von Tieren vor.

Neben dem Tierschutz wurden fast gleichzeitig Tierrechte erdacht. Bei Arthur Schopenhauer (1788–1860) wurden diese Tierrechte 1840 in der „Preisschrift über das Fundament der Moral“  aufgegriffen. „Die vermeinte Rechtlosigkeit der Thiere, der Wahn, daß unser Handeln gegen sie ohne moralische Bedeutung sei, oder, wie es in der Sprache jener Moral heißt, daß es gegen Tiere keine Pflichten gebe, ist geradezu eine empörende Rohheit und Barbarei des Occidents, deren Quelle im Judenthum liegt“. Schopenhauer machte auch das Christentum für die Schlechtbehandlung der Tiere verantwortlich.

Die antisemitische Grundeinstellung, so wie sie von Schopenhauer begründet wurde, sickerte nach der Reichseinigung in die Tierschutzbewegung ein und blieb ihr jahrzehntelang erhalten. Was an fachlichem Durchblick auf dem damaligen Stand der Naturwissenschaft fehlte, wurde durch Eifer ersetzt. Der Tierschutz agierte gegen Quälerei und Überarbeitung von Tieren und streifte natürlich auch das Gebiet der Schlachtmethoden. Wie in anderen europäischen Ländern auch gab es in Deutschland verbreiteten Antisemitismus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Schlachtmethode der Juden, das Schächten, in den Focus der Tierschützer geriet. Das war auf nationaler Bühne erstmalig 1887 der Fall, als der 1881 gegründete Deutsche Tierschutzbund als Dachorganisation zahlreicher Tierschutzvereine eine großangelegte Petition gegen das Schächten einbrachte, die im Reichstag jedoch keinen Widerhall fand. 1899 brachte der nordhessische antisemitische Abgeordnete der Deutschen Reformpartei Max Liebermann von Sonnenberg aus dem dritten Kasseler Wahlkreis einen Antrag zur Einführung des Betäubungszwangs beim Schlachten in den Reichstag ein. Wieder erfolglos. Am 23. April 1909 war es der Zentrumsabgeordnete Carl Friedrich Engelen aus dem dritten Hannoveraner Wahlkreis, der das Schächten verbieten lassen wollte. Von nun an konnte man darauf wetten, daß es überwiegend Abgeordnete der antisemitischen Deutschen Reformpartei waren, wenn das Thema Tierschutz wieder angeschnitten wurde. Am 12. Januar 1911 war es der Abgeordnete der Reformpartei Walther Graef aus dem ersten Sächsisch-Weimarischen Wahlkreis und am 27. Dezember 1912 stellte der Abgeordnete Dr. Werner aus dem sechsten Kasseler Wahlkreis eine diesbezügliche Anfrage, deren Beantwortung er am 15. Januar 1913 in eine judenfeindliche Reichstagsrede einflocht.

Nach 1890 wurde der Tierschutz schleichend zu einer Säule des Heimatschutzes. Der Deutsche Heimatbund, 1904 in Dresden gegründet, war das ideologische Dach über Brauchtums-, Denkmal- und Naturschutz, hatte vor allem ästhetische und volkserzieherische Ziele und war von Anfang an stark völkisch orientiert. Es ging darum die vermeintlich kultur- und naturzerstörenden Einflüsse der Moderne anzuprangern und zurückzudrängen. Die Schuld an der Auflösung traditioneller Bindungen, Wertvorstellungen und Bräuche hatten im Weltbild der Heimatschützer vor allem die Juden. Der leicht zu vermittelnde Landschaftsschutz hatte zunächst Vorrang vor dem Biotop- und Artenschutz. Zu letzterem fehlten die Grundlagen systematischen Erkennens noch weitgehend. Lediglich auf das damalige Wissen der Jäger, Pomologen, Botaniker und Zoologen konnte man zurückgreifen. Ebenfalls um 1900 wurden in Sachsen und Preußen Denkmalschutzgesetze verabschiedet. Natur und Bauten sollten sich ineinander zu romantischen Kulissen verschränken wie in den Radierungen des Romantikers Ludwig Richter. Der Heimatschutz wurde zu recht von seinen Gegnern als eine Malerangelegenheit diffamiert.  Ein kurzes Zitat des Vaters des Naturschutzes Ernst Rudorff mag diese ins Mythisch-Germanische abgleitende Naturschwärmerei illustreren:

„Was unsere Urväter in Wodans heilige Eichenhaine bannte, was in den Sagen des Mittelalters, in den Gestalten der Melusine des Dornröschen lebt, was in den Liedern Walters von der Vogelweide anklingt (…) immer ist es derselbe Grundton, derselbe tiefe Zug der Seele zu den wundervollen und unergründlichen Geheimnissen der Natur, der aus diesen Äußerungen des Volksgemüths spricht.“

In Wotans Eichenhain waren wildlebende Tiere notwendige Staffagefiguren, genauso wie handlungsreiche Personengruppen in traditionellen Trachten und Habits.

Im Oktober 1913 fand der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner bei Kassel statt. Bei dieser Gelegenheit trafen sich 2-3000 Aktivisten der auf über 60.000 Mitglieder angeschwollenen organisierten Jugendbewegung, um ihr gewachsenes Selbstbewußtsein zu demonstrieren und sich über ihre Ziele zu vergewissern. Der Ton wurde von Kulturkritikern angegeben, die antimodernistische, heidnische und spätromantische Konzepte vertraten. Das Grußwort des Lebensphilosophen Ludwig Klages (1872 – 1956) an den Jugendtag ist entsprechend eine einzige Jeremiade gegen das industrielle Zeitalter. Zwei von Ludwig Klages Anklagen seien hier zitiert:

„Wir täuschen uns nicht, als wir den ´Fortschritt´ leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, daß Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von ´Nutzen´, ´wirtschaftlicher Entwicklung´, ´Kultur´ geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die primitiven Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis des Industrialismus die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch übrig läßt gleich dem ´Schlachtvieh´ zur bloßen Ware, zum vogelfreien Objekt ´rationeller´Ausbeutung. In diesem Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft.“

„Um die sogenannten Kulturmenschen mit Billardkugeln, Stockknöpfen, feinen Kämmen und Fächern und ähnlichen ungeheuer nützlichen Dingen zu versehen, werden….achthunderttausend Kilogramm Elfenbein jährlich verarbeitet. Das ist gleichbedeutend mit der Niedermetzelung von fünfzigtausend der gewaltigsten Tiere der Welt. (…) Wir wollen auch nicht wiederholen, was bald Gemeingut des Wissens ist, daß in keinem, aber auch in keinem Fall der Mensch die Natur mit Erfolg korrigieren konnte. Wo die Singvögel verschwinden, vermehren sich massenhaft blutsaugende Insekten und schädliche Raupen, die oft schon in wenigen Tagen Weinberge und Wälder kahl gefressen; wo man die Bussarde abschießt und die Kreuzottern ausrottet, kommt die Mäuseplage und verdirbt durch die Zerstörung der Hummelnester den zu seiner Befruchtung auf diese Insektenart angewiesenen Klee; das große Raubzeug besorgt die Auslese unter dem Jagdwild, welches durch die Fortpflanzung kranker Stücke entartet, wo seine natürlichen Feinde fehlen. ..“

Klages machte ausdrücklich den Industrialismus, den Fortschritt, das Christentum, den Kapitalismus und die Zivilisatíon für das Sterben der Tiere verantwortlich.

Seit 1904 war das „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschließlich Rassen- und Gesellschaftshygiene“ erschienen. Einer der Herausgeber war der antisemitische Jenaer Zoologieprofessor Ludwig Plate. 1924 behauptete Plate: „Die Judenfrage ist zweifellos eine Rassenfrage und gehört daher in eine zoologische Vorlesung…“. Dieses Zitat hat zwar nichts mit Tierschutz zu tun, der erstaunte Leser erkennt jedoch sehr klar, in welchem Maße das Tierreich und die menschliche Gesellschaft ideologisch motiviert verklammert und vermanscht wurden. In diese Vertierung des Menschlichen paßt auch das von Manfred Kyber 1925 veröffentlichte Buch „Tierschutz und Kultur“. Kyber ging mit massiven Drohungen gegen Juden ans Werk, um Tiere vor Quälerei zu schützen:

“ Ich lehne durchaus jede Gemeinschaft mit irgendwelchem Rassenhass ab, der mit meiner geistigen Einstellung nicht vereinbar ist, aber ebenso lehne ich es ab, dass wir uns den rituellen Gesetzen einer fremden Rasse fügen sollen, wenn sie in so offenkundiger Weise mit dem Sittlichkeitsempfinden in Widerspruch steht, wie das Schächten. Wenn die Juden ihrerseits den Gewissenszwang geltend machen, so können wir wohl mit grösserem Recht verlangen, dass bei uns vor allem unser Gewissensgebot geachtet werden muss. Wohin kämen wir, wenn wir jeder Sekte bei uns Verrichtungen einräumen würden, unbekümmert darum, ob diese unserer Kultur entsprechen oder nicht. Dann müssten wir folgerichtig den jeweils bei uns weilenden Kannibalen den Kannibalismus gestatten. Verbeugungen vor jüdischem Kapital können wir an massgebenden Stellen nicht dulden. Geschieht das weiter, so kann man sich über das Anwachsen des Antisemitismus nicht wundern, den zu vermeiden doch schliesslich alle Teile Ursache hätten. So ist auch den Juden zu raten, in dieser Frage Entgegenkommen zu zeigen, durchaus auch in ihrem eigensten Interesse. Die Juden sollten sich warnen lassen. Sympathien und Antipathien lassen sich amtlich nicht festlegen und das Gesetz wird, sehr zum Schaden des Ganzen, die Juden einmal nicht schützen können, wenn sie nicht einsichtig genug sind. Wenn die Juden bei uns gleichberechtigte Staatsbürger sein wollen, so ist das gewiss eine Forderung, die man ihnen billigerweise zugestehen wird. Mit dieser Gleichberechtigung aber ist es ganz unvereinbar, dass sie Sonderrechte für sich in Anspruch nehmen. Damit reissen die Juden selbst, nicht der Antisemitismus, eine Kluft auf zwischen sich und uns, und es ist doch wohl ganz fraglos, dass sich solch eine von den Juden selbst verschuldete Trennung einmal zu ihrem eigenen Schaden auswirken kann und wird. Das wird man selbstverständlich und unvermeidlich finden, ohne auch nur im geringsten einen irgendwie antisemitischen Standpunkt einzunehmen. Im Gegenteil, gerade wer es gut mit den Juden meint und keinen Hass gegen sie nährt, muss ihnen den schleunigen freiwilligen Verzicht auf das Schächten dringend raten. Wenn die Juden auf das Schächten nicht verzichten, müssen sie sich sagen lassen, dass gerade die Ethiker unter uns, die den Rassenhass ablehnen, nicht mehr zu ihnen stehen können und wollen.“ 

Es dauerte nicht einmal ein Jahr, dass der Erste Maler der Lebensreform Fidus (1868–1948) sich dem Anliegen von Manfred Kyber anschloß. „Über allem, was athmet, halte schirmend, Geweihter des Grales, deinen Schild!“ stand auf einer Grafik mit Ritter, Schild und Hirsch.

Als ideologische Nachfolgeorganisation der Deutschen Reformpartei brachte die NSDAP 1927 einen Antrag zum Tierschutz in den Reichstag ein, bei dem wiederum wie bei dieser Partei nicht anders zu erwarten, das Schächten im Mittelpunkt der zu bekämpfenden Auswüchse stand.

Über die Tierschutzgesetzgebung im Dritten Reich ist bereits viel geschrieben worden, so daß sich eine weitere Erwähnung der innigen Verbindung zwischen Tierschutz und Nationalsozialismus erübrigt.

Der Tierschutz war seit seiner Entstehung bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts wegen des Fehlens wissenschaftlicher Grundlagen etwas dilettantisch, aber gut gemeint. Nach der Reichsgründung bis zur Machtübernahme Hitlers war er für die allermeisten Akteure immer weniger reiner Selbstzweck, sondern zunehmend eine politische Waffe. Egal ob es sich um den Kampf gegen Juden, die Marktwirtschaft, die Kirchen oder die Technik handelte, immer mußte die arme gequälte Kreatur Munition liefern.