Der Koran auf dem Altar der Macht

Im 20. Jahrhundert waren die Türkei, Palästina und der Iran politische Versuchslabore im Nahen Osten. Die Türkei hatte zwischen 1890 und 1940 ein großangelegtes säkulares Modernisierungsprogramm umgesetzt, welches vor allem durch die deutsche Jugendbewegung und Offiziere des kaiserlichen deutschen Heeres beeinflußt war. Die Jungtürken und Atatürk drängten die Frommen zurück und europäisierten, sozialisierten und nationalisierten. Der Großmufti von Jerusalem lehnte sich ohne von der Religion abzulassen stark an die NSDAP an, verweilte 1941 bis 1945 in Deutschland und auf dem eroberten Balkan, schloß sich der SS an und engagierte sich für die schnellere Vergasung der Juden. Auch der irakische Widerstand unterstützte im Weltkrieg die Achsenmächte. Letztlich erfolglos, über dem Reichstag wehte 1945 die rote Fahne. Das Spiel mit der deutschen Karte war nach der Eroberung Berlins gescheitert. Der arabische Widerstand suchte sein Heil danach in Moskau, die Türkei schlüpfte dagegen in die NATO. Der arabische Sozialismus, von der Sowjetunion gefördert, wurde in Ägypten, Syrien, Algerien, Tunesien, im Südjemen, im Irak und in Lybien zeitweise Staatsreligion. 1970 bestand die PLO nur aus laizistischen, nationalistischen und linksextremen Gruppen.

Erste Kratzer hatte der sozialistische Panarabismus durch den verlorenen 6-Tage-Krieg (ḥarb al-ayyām as-sit) Ägyptens, Jordaniens und Syriens gegen Israel 1967 bekommen. Die russische Bewaffnung der Ägypter und Syrer hatte versagt, genauso wie die militärischen Führungseliten Arabiens. Der sowjetrussische „Schild-und-Schwert-Plan“ für den ägyptischen Stellungskampf in der Sinai-Wüste hatte überhaupt nicht funktioniert. 35 sowjetische Militärberater und 20.000 Ägypter bezahlten das mit dem Leben. Die Erwartungen waren vor dem Krieg zu hoch gespannt worden. Der syrische Kriegsminister Hafiz al Assad hatte verkündet: „Unsere Streitkräfte sind nun voll bereit […] dem Akt der Befreiung den Anstoß zu geben und die zionistische Anwesenheit im arabischen Heimatland in die Luft zu jagen. Ich als Militär glaube, dass die Zeit gekommen ist, den Vernichtungskrieg zu führen.“ Sozialistische Dichtung und Wahrheit lagen wie immer meilenweit voneinander entfernt. Das fiel mit der Zeit auch den Arabern auf.

Kurz nach dem 6-Tage-Krieg hatte die PLO 1970 immer noch unter den Bannern des Panarabismus, des arabischen Sozialismus und des Marxismus-Leninismus den Versuch gemacht, die Macht in Jordanien zu übernehmen, um eine territoriale Basis für den Kampf gegen Israel zu schaffen. Dieser Feldzug ging 1971 zugunsten des jordanischen Königshauses und der Beduinen aus, welche im Bund mit Allah, mit saudischen Millionen und westlichen Waffen siegten. In Palästinenserkreisen begann die Diskussion über den Nutzen linksnationaler und marxistisch gefärbter Lehren. Eine große Rolle in diesen Zusammenkünften spielte das Beispiel südlibanesischer schiitischer geistlicher Führer, die um sich ein Umfeld geschaffen hatten, das militärisch erfolgreich war, zumindest solange, wie Israel das im Südlibanon duldete. Die PLO-Hauptquartiere wurden in dieser Phase in den Südlibanon verlagert bis Israel einmarschierte. Es war Hoffnung entstanden, die Licht am Ende des Tunnels verhieß. Das neue Konzept hieß: Sich auf die eigenen Kräfte verlassen und mehr Körpereinsatz. Die wesentliche neue Komponente des Kampfes war der Selbstmordanschlag, der in säkularen Systemen nicht funktioniert, da es kein sozialistisches Paradies mit mandeläugigen Huris gibt. Huris sind keine Huren, sondern Jungfrauen, die die großen Augen züchtig niederschlagen, wenn der Gebieter naht.

Diese Diskussionen wurden 1974 und 1975 fast täglich sehr intensiv geführt und nach etwa vier Monaten abgeschlossen. Im Ergebnis ist die PLO vom Panarabismus und anderen linksnationalen und linksextremen Ideologien zum Islam übergelaufen. Zeitgleich fielen die palästinensischen Brückenköpfe in Europa vom Kauderwelsch der Frankfurter Schule ab.

Während die palästinensische Diaspora in Deutschland 1972/73 noch Schweinefleisch aß und Bier trank, erfolgte 1974/75 der Übergang zum Tee- und Kaffeetrinken. Der aus dem Jemen zur Verfügung gestellte und von Saudi-Arabien bezahlte Tee und Kaffee zur Umgewöhnung war wirklich exzellent. Jakobs, Dallmayr und Messmer könnten zumachen, wenn die Jemeniter nach Deutschland liefern würden. Der Tee wurde mit Salbei und viel Zucker getrunken (tschai ma meramiye), der Kaffee mit Kardamum, was den Eindruck erzeugte, im Reiche von Tausend und einer Nacht zu weilen.  Auch die Rolle der Frau wurde neu definiert.  Leila Khalid als bewaffnete Kämpferin war nur in den frühen 70ern möglich.  Sie wurde 1967 Mitglied der leninistischen Volksfront zur Befreiung Palästinas  und erhielt eine militärische Ausbildung in Jordanien. Ohne Kopftuch und Burka mit einer europäischen Modefrisur entführte sie mehrere Flugzeuge. Heute darf sie allenfalls auf langweiligen Konferenzen rumsitzen und Reden halten. Der Zugang zu den Zirkeln der Macht ist ihr als Frau verwehrt. Bis 1973 viel benutzte Parolen der atheistischen Lebensreform wie „Es lebe die Jugend“ (tachir ash shabab) gerieten nach 1974 schnell in Vergessenheit. Das traditionelle Reisgericht Machluba wurde nicht mehr mit Schweinefleisch, sondern mit Schafs- oder Ziegenfleisch bereitet. War es bis Mitte der siebziger Jahre noch üblich Europäer in das arabische Leben einzubeziehen, war das später sehr eingeschränkt. Als ich 1983 zufällig einen alten Bekannten von der Fatah wiedertraf, den ich seit 1976 nicht mehr gesehen hatte, war er sehr verändert. Er vergewisserte sich erst mal, daß ich zu den Leuten des Buchs gehöre (also kein Atheist bin) und bat mich ziemlich rüde und unvermittelt meine Freundin, die gerade neben mir stand, aus der Hörweite wegzuschicken.  Meine Freundin war nicht irgendeine Tussi, sondern hatte in den Siebzigern im Cafe Moskau zum Anhang des revolutionären Bürgerschrecks Wolf Biermann gehört. Sie war schwer beleidigt.

Um die wirklich blitzschnelle Drehung der PLO zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, in welchem desolaten Zustand der weltweite Sozialismus 1974/75 war. Die Roten Khmer hatten Phnom Penh noch nicht überrannt und die killing fields waren Zukunft. Saigon war noch nicht gefallen. Die chinesische Kulturrevolution lag in den letzten Zügen, die Roten Garden konnten keine Lehrer und Professoren mehr aus dem Fenster schmeißen, weil die Schulen schon jahrelang geschlossen waren. Die chinesischen Kampagnen um 1975 waren lustlos. Die Sowjetunion befand sich mitten in der endlosen  Agonie der Breshnew-Herrschaft. Die letzten militärischen Heldentaten waren die brüderliche Hilfe in Prag und der Grenzkrieg mit den chinesischen Freunden am Ussuri. Die Anziehungskraft des Sozialismus befand sich 1974/75 gerade auf einem Tiefpunkt. Es war die Zeit, als folgende Anekdote erzählt wurde: „Was passiert, wenn die Sahara sowjetisch wird? Zunächst nichts, aber dann wird der Sand knapp!“

Der Islam paßt für den Kampf: Er ist transzendenter als der alt gewordene Panarabismus, lebendiger als der in die Jahre gekommene Marxismus-Leninismus und bestimmter als der lauwarme Sozialdemokratismus.  Der Koran vertritt ein offensives Konzept des Kampfs ohne Umschweife. In Europa herrscht die Tendenz vor, sich den Koran beliebig zurechtzulegen und zurechtzulügen, so daß dieser Umstand falsch eingeschätzt wird. Es ist im Westen eine ähnlich fehlgeleitete Diskussion entstanden wie die über den Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Seit der Renaissance des Islam in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist das machtpolitische Konzept der Araber und Iraner aufgegangen. Der Iran, Libyen, der Ghasa-Streifen und das Zweistromland sind im Verständnis der Araber Vorposten und Brückenköpfe einer neuen Weltordnung. Es gibt derzeit wirklich keinen Grund vom Islam abzufallen.  Er hat die stärkere Macht und erhebliche finanzielle und emotionale Ressourcen.

Ob Arabischer Sozialismus, Maoismus, Leninismus oder Islam, jede Lehre muß sich als Kompaß und Motivation im Kampf legitimieren. Und zwar durch Erfolg.  Der Koran liegt derzeit auf dem Altar der Macht, weil er seit dem Beginn der 70er Jahre die härteste Waffe ist.  Aber die Geschichte zeigt auch: Wie die Heilslehren kommen, so gehen sie wieder. Wenn sie in der Praxis versagen und wenn neue Sichtweisen mehr Erfolg versprechen.