Eine Parteiversammlung vor 25 Jahren – reines Chaos!

Heute beschweren sich Parteien wenn ihre Plakate runtergeworfen werden oder wenn die Wahlhelfer von der Antifa attackiert werden. Vor 25 Jahren war Politik noch ein wirklicher survival trip. Bei einer Fahrt nach Ostberlin wußte man nicht wann man wieder nach Hause kommt und wie. Tagesordnung? Ladungsfristen? Alles nicht machbar.

Der Mellinger Pfarrer hatte über seine Amtskontakte erfahren, daß am 1. Oktober 1989 ein Treffen der Opposition stattfinden sollte. Niemand wußte um welche Opposition es sich handelt, Anlaß und Tagesordnung waren ebenso unbekannt. Nur der Treffpunkt, die Samariterkirche in Ostberlin und die Uhrzeit wußten wir. Der Pfarrer und ich beschlossen dabeizusein.

Alte revolutionäre Tricks waren angesagt um überhaupt in Berlin anzukommen. Im Fahrkartenschalter saß an diesem Morgen eine junge Dame, deren Vater der Chef der Weimarer NDPD war. Diese Nationaldemokratische Partei war in der Nationalen Front für den Nationalbolschewismus zuständig. Wahrscheinlich kein Zufall, daß sie gerade an diesem Morgen da saß. Die Nationale Front war vom Staat und seinen Organen stark durchsetzt. Wir fuhren einige Züge früher als notwendig und kauften nur Fahrkarten für die Hinfahrt. Statt nach Berlin lösten wir nach Bernau. Dadurch entgingen wir tatsächlich der Streckenüberwachung. In Ostberlin fuhren wir ins Zentrum, statt an der Samariterstraße auszusteigen und uns von der Stasi abfangen zu lassen. Simple Tricks sind immer die besten. Bei einem Rundgang wirkte die Stadt als sei die Zeit stehen geblieben. Vor der Neuen Wache warfen die Langen Kerls vom Wachregiment Feliks Dsershinski ihre Beine in die Höhe und ein paar verstreute Ausländer sahen zu. Nach dem Besuch der Linden und des Palastes der Republik, im Volksmund „Ballast der Republik“ genannt, pirschten wir uns von Westen an die Samariterkirche heran. Etwa 100 Meter vor der Kirche standen vier Streifenwagen und zahlreiche Bewaffnete. Wir überlegten einen Moment, ob wir weitergehen sollten. Augen zu und durch, war das Gefühl. Vor der Kirche stand der durch das Westfernsehen bekannte Pfarrer Rainer Eppelmann. Er begrüßte uns und sagte, daß die Stasi uns in die Samariterkirche nicht hereinlassen würde. Wir müßten in eine Wohnung ausweichen. In diesem Moment raste ein Renault um die Ecke, die Bremsen quietschten und er blieb genau neben uns stehen. Die Tür flog auf, wir wurden hereingeschoben und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Stasi, ZDF oder ARD schoß es mir durch den Kopf, denn es handelte sich ja um einen Westschlitten. Die erste Vermutung stimmte, denn der Fahrer war Wolfgang Schnur. Nur daß wir erst im Laufe des Tages begriffen, wer er war. Hinter seine Nobelkarosse setzten sich sofort zwei Streifenwagen. Bereits an der zweiten Kreuzung waren beide verschwunden, ohne daß ich mir das logisch erklären konnte. Nach einer rasanten Fahrt hielt Schnur an und sagte uns die Hausnummer, wo das Treffen steigen sollte. Unbehelligt erreichten wir die Wohnung von Ehrhart Neubert in der Pieckstraße.

Dort hatten es sich bereits einige Teilnehmer der Beratung gemütlich gemacht, und im Verlauf einer halben Stunde wuchs die Zahl auf knapp 30 Leute an. Dann fuhr ein Mannschaftswagen vor und im Hausflur postierte sich eine Polizeikette. Eppelmann und weitere, die zur Versammlung hinzukommen wollten, wurden an der Haustür abgewiesen. Derweil wurden oben in der Wohnung der Gründungsaufruf und das Programm des Demokratischen Aufbruchs verteilt. Für ein ruhiges Lesestündchen war es etwas ungemütlich. Nach alter Sitte wurde eine Teilnehmerliste erstellt, um im Falle von Verhaftungen oder der Erstürmung des Lokals die Kirchenleitung über die Namen der Verhafteten zu informieren. Da klingelte es. Die Tagungsmaterialien und die Liste flogen hinter die Schränke. Es waren drei Frauen, die durch die Polizeikette noch eingelassen wurden. Lotte Templin, Margot Friedrich und Daniela Dahn. Wie sich später herausstellte klappte das weil Frau Dahn noch hereinsollte. Derweil wechselte unten beständig die Szene. Zwei Streifenwagen kamen, ein Mannschaftswagen entfernte sich, drei Mannschaftswagen fuhren auf, Streifenwagen verschwanden, kurz es wurde Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um uns Angst einzujagen. Nach einer Stunde hatten wir die Taktik erkannt und schauten nicht mehr raus. Hildigund Neubert schmierte Leberwurstbrote und kochte Kaffee, Erhard Neubert las den Text des Gründungsaufrufs und des Programms vor: Abschaffung der Alleinherrschaft der SED, gemischtes Wirtschaftssystem, Teilen des Reichtums mit der dritten Welt, Umweltschutz. Der erste Satz lautete: „Wir fordern die Trennung von Partei und Staat“. Über alle diese Punkte gab es keinen Streit. Ein solcher wäre angesichts des Truppenaufgebots vor der Türe auch nicht ratsam gewesen. Bei der Frage der deutschen Einheit gab es Bestätigungsdiskussionen für die Eigenstaatlichkeit, aber als Ehrhart Neubert eine selbstgenähte Parteifahne für den Demokratischen Aufbruch aus dem Schrank holte, verzogen sich die Gesichter und es gab ein Raunen. Es war eine DDR-Fahne, in der der Ährenkranz im Emblem durch das Wort „Demokratie“ ersetzt war. Das war den Teilnehmern zu zahm und zu regimetreu. Nach einer Ewigkeit, die „Dokumente“ waren beschlossen und am Aufruf wurde noch gefeilt, klingelte es an der Tür, und der kleine Herr, der uns hergefahren hatte, marschierte ein. Wolfgang Schnur verkündete, er hätte freies Geleit für uns ausgehandelt, falls wir bis 21 Uhr die Wohnung verließen. Er setzte sich hin, ließ sich über den Verlauf der Gründungsversammlung berichten, insbesondere fragte er nach dem Verlauf der Diskussion über die Deutsche Einheit. Diensteifrig referierte ich ihm, daß man die DDR am Leben lassen wolle. Meine Wünsche und die mancher Teilnehmer gingen allerdings in eine andere Richtung. Dann leierte Schnur die Ereignisse des Tages mit leiser monotoner Stimme und mit seinem kalten Fischblick herunter, als würde er sterbenslangweilige Schriftsätze in sein Diktiergerät geben. Er wurde von Ehrhart Neubert und Rudi Pahnke auf das Statut angesprochen, das er ausarbeiten sollte. Das hatte er im Auto vergessen. Kein Problem, er ging durch die Polizeikette zu seinem Auto, kam durch dieselbe Kette nach wenigen Minuten mit einem Pilotenkoffer wieder zurück. Man mußte an ein Wunder glauben, wenn er nicht in der Stasi war, aber ohne diesen Wunderglauben wären die ersten Schritte zur Wende nicht erfolgt. Dem eingeschleppten Superkoffer entnahm er die von ihm selbst ausgearbeiteten Statutentwürfe. Ehrhart Neubert hatte verschiedene westliche Journalisten für 22 Uhr zu einer Pressekonferenz eingeladen. Zwischen Schnur, Neubert und Pahnke ging ein ätzender Streit los, wer vor die versammelte Weltpresse treten solle, um die Geburt des Demokratischen Aufbruchs anzuzeigen. Darüber verfloß die köstliche Zeit. Gegen 22 Uhr tobte der Zwist immer noch und von den Presseleuten hörte und sah man nichts. Sie wurden vermutlich nicht reingelassen.

Gegen 22 Uhr verließen die Konterrevolutionäre, Staatsfeinde und Antisozialisten, so die politisch korrekte Sprachregelung, die Neubert´sche Wohnung, um sich nach Hause zu begeben und den Wachen im Hausflur ein Lebewohl zu sagen. Das ist lyrisch ausgedrückt, auch die Vopos von der Polizeikette wünschten tatsächlich beim Abschied eine gute Nacht. Die Bepos auf den Mannschaftswagen vor der Haustür dagegen johlten, als sie uns sahen. Sie hatten wohl einen mächtigeren Gegner erwartet, nach so vielen Stunden Personal-, Diesel- und Zeitverschleuderung. Die schweren Mannschaftswagen konnten uns auf die U-Bahntreppe nicht folgen. Brauchten sie auch nicht. Unten wurden wir bereits von unauffälligen Liebespärchen erwartet, die vor allem die Liebe zum Geld und zur Partei antrieb. In der U- Bahnebene waren sie nicht loszuwerden. In Lichtenberg verließen wir zu viert die U- Bahn, es folgten auf dem Weg zum Fernbahnhof nur zwei Spitzel. Das war Gelegenheit für zwei von uns zu türmen. Ein Staatsfeind aus Zeitz und einer aus Dresden konnten in einen Seitengang fliehen, die Spitzel teilten sich nicht und blieben zu zweit hinter uns. Wahrscheinlich hatten sie Anweisung sich nicht zu trennen. Am Bahnhof vorbei gingen wir zu den Bushaltestellen, wir mußten jedoch feststellen, daß auch dort schon Spitzel aufgezogen waren. Bei jeder Richtungsänderung unsererseits änderten auch die Verfolger ihre Laufwege. Schließlich gingen wir in den Bahnhof Lichtenberg und konnten durch die Verglasung zwischen der Straße und der Bahnhofshalle mühelos beobachten, wie die Spitzel der Transportpolizei Befehle gaben und auf uns zeigten. Zwei Trapos setzte sich in unsere Richtung in Bewegung. Fliehen hatte keinen Zweck mehr und wir ließen mit uns die Ausweis- und Fahrkartenkontrolle machen. Die Trapos wollten nicht glauben, daß wir mit dem Zug nach Berlin durchgekommen waren, obwohl sie unsere Hinfahrkarten ja in der Hand hatten. Sie zollten uns Respekt und sagten, daß wir normalerweise nie angekommen wären. Wir bekamen die Anweisung, Fahrkarten nach Weimar zu kaufen und mußten bis zur Zugabfahrt in der Halle warten. Um uns herum begannen etwa 10 Spitzel im Kreis zu laufen, alles junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren, die wahrscheinlich noch nie gearbeitet hatten. Sie wurden angeleitet von einem etwa 50jährigen schlanken Mann mit Seemannsbart und einer weißen Windjacke. Als weitere Teilnehmer der DA-Versammlung auf dem Bahnhof eintrafen, zerteilte sich die Fürsorge der Tschekisten auf mehrere Personengruppen. Als Margot Friedrich aus Eisenach in die Mangel genommen wurde, heulte sie fürchterlich mitten in der mit Reisenden gut gefüllten Halle. Der Bartträger mit der Windjacke trat wieder in Aktion und redete lange recht barsch auf sie ein. Um ein vorzeitiges Verlassen des Zuges zu verhindern, wurde pro Staatsfeind ein Arbeitsscheuer mit in den Zug gesetzt. Beim Verlassen des Weimarer Bahnhofs wartete schon ein roter Stasi-Wartburg vor der Tür. Er folgte uns bis zur Stadtgrenze. Es sollte verhindert werden, daß wir zu Etelbert Richter Kontakt aufnahmen, der gerade unter Hausarrest stand.

Während wir uns in Ostberlin versammelten, hatte die Parteiführung eigentlich wichtigeres zu tun, als sich mit dem Demokratischen Aufbruch zu beschäftigen. Es gab am 01.10.1989 Überstunden im Reisebüro Honecker: Die Botschaftsbesetzer in Prag und Warschau sollten raus, um die schöne Geburtstagsfeier der Republik zu retten. Außenminister Genscher hatte einen Tag vorher die Ausreise der Botschaftsbesetzer aus Prag verkündet, die Besetzer hatten gejubelt: „Deutschland, Deutschland, wir kommen!“