Avantgardistischer Konservatismus

Der gefühlte Übervater des deutschen Konservatismus Reichskanzler Otto v. Bismarck war Realpolitiker, der nach 1870 nur noch damit beschäftigt war, die in den Deutschen Kriegen eingefahrene Ernte dauerhaft zu sichern. Eine weltpolitische Mission, also ein apokalyptisches Szenario mit seiner eigenen Hauptrolle erkannte er nicht. Zuweilen hatte er sehr liberale Züge. So führte er im Pulverdampf der Deutschen Kriege recht geräuschlos die Gewerbefreiheit wieder ein, die die „Revolutionäre“ der 48er Revolution eingeschränkt hatten.

Über dem Arbeitsplatz des thüringischen AfD-Sprechers Björn Höcke hängt ein Bismarck-Porträt. Höcke ließ im Landtagswahlkampf jedoch Plakate für den Erhalt des Meisterbriefs aufhängen und beschritt damit den Weg in die umgekehrte Richtung wie Bismarck. Er will ein avantgardistischer Konservativer sein. So sehen wir an zwei konservativen Politikern, daß der Konservatismus ein sehr weites Feld ist, wie Theodor Fontane es ausgedrückt hätte.

Entsprechend gibt es insbesondere in der AfD, aber auch an den Rändern der CDU und CSU immer wieder Diskussionen, was Konservatismus eigentlich ist. Vor einigen Tagen hatte sich ein AfD-Freundeskreis getroffen (nein, es war dieses Mal nicht der umtriebige Konservative Freundeskreis aus Seitenroda) und jeder Teilnehmer der gemütlichen Runde hatte seine eigene Definition von „konservativ“. Also Zeit mal in die Geschichtsbücher zu schauen.

Der deutsche Märchenwald war seit je ein Sammelpunkt antikapitalistischer und konservativer Ressentiments. Ein Beispiel für den konservativen Antikapitalismus ist das Kunstmärchen „Das kalte Herz“ von Wilhelm Hauff. Es entstand am Vorabend der Industrialisierung etwa 1827. Zwei Geister streiten um den Kohlenmunkpeter. Das Glasmännlein als Vertreter der traditionellen Werte und der Holländer Michel als Patron der Holzfäller und Handelsherren.

„Seitdem wir diesen Handel haben, seitdem die Schwarzwälder Leute kölnische Pfeifen tragen, seitdem sie ihren eigenen Wald, ihre eigenen Bäume bis nach Holland verkaufen, seitdem sind die Menschen schlecht geworden.“

Das war Hauff´s Resumee der neuen Zeit. Und mit dieser Vermutung der handelsbedingten Charakterverschlechterung wird noch heute argumentiert, das unschuldige autarke Dorf wird der schmutzigen Handelswelt gegenübergestellt. In einem Land übrigens mit riesigen Außenhandelsüberschüssen, wo nicht nur ein paar Baumstämme nach Holland verkauft werden.

Der deutsche Konservatismus in der Zeit des Deutschen Bundes und des frühen Kaiserreichs orientierte sich an den Traditionen des untergegangenen Heiligen Römischen Reichs. Eine traditionelle Handwerksverfassung, der Vorrang der Interessen der Landwirtschaft, Ablehnung des Finanzkapitals und monarchistische Gesinnungen dominierten das Denken. Das hing damit zusammen, daß Gewerbefreiheit, Demokratismus und Judenemanzipation als Exzesse der französischen Revolution bzw. als Importe aus der Zeit der französischen Fremdherrschaft wahrgenommen wurden. Sie hatten in den empfindsamen deutschen Nasen den Blutgeruch der Guillotine bzw. den des Pulverdampfs der napoleonischen Kriege. Die restaurierten Monarchien der Nach-Napoleon-Zeit beließen es allerdings bei den einmal eingeführten bürgerlichen Reformen, weil deren Resultate einfach mehr Geld in die Staatskassen spülten, als die selbstgenügsame Existenz von Zünften und anderer vorbürgerlicher Wirtschaftsweisen.

Außenpolitisch wurde der komplizierte Interessenausgleich der drei Monarchien Rußland, Österreich und Preußen gepflegt.  Es war die Zeit der sogenannten Heiligen Allianz des Fürsten Metternich und später Bismarcks. Das außenpolitische Gleichgewicht dieser drei Mächte beruhte auch auf dem militärischen Machtgleichgewicht in Europa. Der Reichskanzler Otto von Bismarck war die perfekte Verkörperung dieser konservativen Anschauung (es war eben keine Weltanschauung), nur seine Loyalität gegenüber seinem König und Kaiser Wilhelm I.  war nahezu grenzenlos, wie man aus seinen Erinnerungen schließen kann.

Sein Abgang als Kanzler 1890 und das zugrundeliegende Zerwürfnis mit Wilhelm II. bezeichnet eine Zeitenwende und den Beginn des Neokonservatismus. Letzterer war ein in den Suppenkesseln der Wandervögel weichgekochter Ideologiebrei mit bereits unverhohlen völkischen Überzeugungen, die deutlich atheistisch waren. Der Einfluß von Friedrich Nietzsche  führte zu einem anderen Wertegerüst, zur Umwertung auch der konservativen Werte.  Der neue Mensch wurde das Ziel, die Natur, das Blut, der Boden und die Kultur als neue Götzen verdrängten die christlichen Werte. Der „Zarathustra“ als Zeitgeistprodukt siegte nach und nach über die Bibel als konservativer Kompaß. Übrigens litten auch sozialistische und liberale Überzeugungen unter diesem Mainstream.

Exemplarisch für den neuen Geist ist die Tagebuchaufzeichnung von Leutnant Leopold von Stutterheim (*1894) vom 04. August 1914 bei Kriegsausbruch. Hier ist nicht mehr von Gott und recht wenig vom Kaiser die Rede, sondern von blonden und blauäugigen Kindern, der germanischen Weltmacht und dem Ideal der höchsten Kultur der Welt:

„Wir stehen allein, Österreich, Deutschland. Feinde ringsum, Serbien, Frankreich, Rußland, England, Belgien, Feinde. Ob wir Sieger bleiben werden, wir wissen es nicht. Wir lügen uns nichts vor. Wir vertrauen nur unserer Stärke. Wir kämpfen, daß unsere Mütter und Schwestern uns einst froh entgegenjauchzen und in zehn Jahren auf Scharen von blonden blauäugigen Kindern schauen, die alle Lücken wieder ersetzt haben, und da wir jetzt unmöglich ganze Arbeit tun können, die germanische Weltmacht der höchsten Weltmacht begründen. Wir kämpfen für unsere Frauen und unsere Kinder, daß sie ein schönes freies Leben ohne Armut führen können, sich entwickeln, wie wir es durften. 1864, 1866, 1870 waren es nur praktisch erreichbare Ziele, diesmal handelt es sich um das Ideal der höchsten Kultur der Welt.“

1864, 1866 und 1870 beim Ausbruch der Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich wäre eine gleichlautende Tagebucheintragung nicht denkbar gewesen. Die ideologische Kulisse hatte sich fundamental gewandelt. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg suchte der Neokonservatismus den Schulterschluß der sogenannten jungen Völker gegen die „alten verbrauchten“ Siegermächte. Der neokonservative Ideologe Eduard Stadtler beispielsweise pries bereits 1920 die Diktatur Lenins: dort regiere ein Herrscher, der einzige in Europa. 1922 nach dem Marsch auf Rom favorisierte er ein Bündnis Deutschlands mit dem faschistischen Italien, mit den Jungtürken Atatürks und mit dem „Sowjetfaschismus“.  (1) Dieser antitraditionalistische und antimonarchistische, ja geradezu revolutionäre Konservatismus wäre für Otto von Bismarck undenkbar gewesen.

Stadtler wurde Reichsschulungsleiter der konservativen Deutschnationalen Volkspartei und diese wurde während der Weimarer Republik aus einer Partei monarchistischer Patriarchen und ostelbischer Junker in eine bündische Bewegung umgebaut, die seit 1928 dem Zeitungszaren Alfred Hugenberg gehorchte. Mit fliegenden Fahnen marschierte man Schulter an Schulter mit der NSDAP ins Dritte Reich, in eine ausgesprochene Umerziehungsdiktatur. Der Gedanke des Bewahrens von Traditionen war restlos aufgegeben worden.

Der alte Konservatismus dagegen zehrte an der Tradition, wollte bewährte wirtschaftliche und politische Strukturen erhalten und das Erreichte langsam und umsichtig fortentwickeln. Daß er mit der protestantischen Religion verbandelt war, beweist, daß er die Menschen nicht umerziehen wollte, sondern sich mit den tradierten Sünden arrangieren wollte.

Der Neokonservatismus dagegen mündete in ein Umerziehungsprogramm und in Träume von einem neuen schönen idealistischen Weltreich, bevölkert von erst noch zu schaffenden Neuen Menschen.

In diesem Spannungsfeld verlaufen auch die heutigen Auseinandersetzungen in CDU, CSU und AfD um den Konservatismus. Alle jene, die nur an bewährten Traditionen festhalten wollen, versammeln sich unter der Fahne des „Wertkonservatismus“, wo die Familie, das Eigentum, das Bargeld und christliche Werte verteidigt werden. Eine Plattform, an der man das ganze Spektrum dieser Richtung fast repräsentativ auslesen kann, ist der Blog „Freie Welt“ von Beatrix von Storch.

Ein problematischer Aspekt ist freilich immer der außenpolitische. Die Bismarcksche Außenpolitik läßt sich nicht restaurieren, weil Deutschland militärisch und territorial inzwischen ein Zwerg ist. Die Vorstellung, auch ohne Atomwaffen souveräne Außenpolitik machen zu können, ist machtpolitisch naiv und wäre dem Eisernen Kanzler Bismarck nicht einmal in den Sinn gekommen. Blut und Eisen gehörten damals zur Außenpolitik noch dazu, genauso wie heute der rote Knopf zur Auslösung der Bombe.

Neben diesem Wertkonservatismus gibt es nun den avantgardistischen Konservatismus eines Björn Höcke. Die Avantgarde ist eine Vorhut. Der preußische General Carl von Clausewitz schrieb in seinem Buch „Vom Kriege“: „Die Wirkungen solcher Vorhut gehen also von der bloßen Beobachtung zum Widerstand über, und dieser Widerstand ist nicht nur geeignet, dem Korps die Zeit zu verschaffen, welche es braucht, um sich schlachtfertig zu machen, sondern auch des Feindes Maßregeln und Absichten zu einer früheren Entwicklung zu bringen, folglich die Beobachtung bedeutend zu steigern.

Avantgardistischer Konservatismus geht von der Vorstellung aus, daß wenn man immer nur Werte verteidigt, von Anfang an in einer defensiven Position ist. Man muß angreifen und die Kämpfe aus dem eigenen in das politische Territorium der Grünen und Linken verschieben, den grünen Märchenwald betreten und dessen Tabus hinterfragen.

Allerdings überlegt und systematisch. Warum Höcke schon zu Beginn seiner Offensive das einfache NPD-Mitglied in Schutz nimmt, bleibt sein Geheimnis, denn das NPD-Programm ähnelt dem der Grünen und Linken bis in lächerliche Details auf vielen Politikfeldern. Die konservative Vorhut geht dann zum Angriff über, wenn sie alle Dekonstrukteure der Tradition ins Visier nimmt, auch die nationalsozialistischen. Und wenn sie nicht wieder in den selbstmörderischen Neokonservatismus der Weimarer Republik zurückfällt.

 

(1) Gert Koenen: Der Russland-Komplex, München S. 321 ff.