Der Niedergang der deutschen Journalisten-Kunst

Michael Gassmann hatte in der WELT einen schlecht oder zumindest unvollständig recherchierten Artikel geschrieben: „Bau-Unglücke belegen Niedergang der deutschen Ingenieurskunst“.

Die Ermittlung der Wahrheit zu Unglücken beim Brücken- und Tunnelbau, ebenso bei der Entwicklung von Software für den Motorenbau ist für den Journalisten zugegebenermaßen schwierig, weil sich Ingenieure per Ingenieurvertrag zur Geheimhaltung verpflichten müssen. Insbesondere staatliche und halbstaatliche Bauherren scheuen das Licht der Öffentlichkeit und die Transparenz. Sie vergattern ihre Auftragnehmer direkt schriftlich. Sobald ein Unfall passiert, raten auch alle Anwälte die Schotten zur Außenwelt – und dazu gehört auch die sogenannte „Lügenpresse“ – dicht zu machen.

Gerade diese Schwierigkeiten könnten den investigativen Journalisten in seinem aufklärerischen Drang befeuern, doch noch Schnipselchen der Wahrheit ans Tageslicht zu befördern. Dazu gehört Michael Gassmann nicht, der seine Möglichkeiten mit der Anfrage bei einem Ingenieurverband bereits ausgereizt hat. Er ist eher eine Art Nachrichtenbeamter. Versuchen wir der WELT also mal auf die Sprünge zu helfen.

Der Autor dieser Zeilen war von 1991 bis 2012 Geschäftsführer und Prokurist mehrerer großer Ingenieurbüros und plaudert mal aus dem episodischen Nähkästchen. Das aufschlußreichste Erlebnis stammt aus den 90er Jahren aus einer Projektberatung eines Großprojekts der Deutschen Bahn AG. Ein arroganter Projektleiter der Bahn mit dem Spitznamen „Mister zwei Prozent“ erklärte die Spielregeln des Miteinanders mit den Ingenieuren: „Wenn ich die Stirn runzele, hört derjenige, der gerade spricht auf zu sprechen. Wenn ich den Daumen senke, verläßt derjenige, der gerade gesprochen hat den Raum.“ Mir war sofort klar, daß es sich um einen Verbrecher handelt. Den anderen Anwesenden vermutlich auch. Einige Jahre später tauchte er in Handschellen im Fernsehen wieder auf. „Endlich“ habe ich damals gedacht. Er war ein Opfer des Aufklärers Hartmut Mehdorn geworden. Wenig später wurde Mehdorn vom SPIEGEL, von der Eisenbahngewerkschaft und wahrscheinlich auch von der Mafia abgeschossen.

Diese Beratung mit „Mister zwei Prozent“ war zwar die Spitze des Eisbergs, beschreibt das Verhältnis der staatlichen Bauherren zu ihren Auftragnehmern jedoch treffend. Es wurden oft Anforderungen gestellt, die nicht diskutiert werden dürfen. „Geht nicht“ gibt’s für den Ingenieur leider nicht. Löbliche Ausnahmen waren einige Bauamtsleiter von Kreisverwaltungen und Dorfbürgermeister, denen man die technische Welt auch mal erklären durfte, ohne gleich rausgeworfen zu werden. Der höhere Beamte ist dagegen oft beratungsresistent.

Einmal ging es um einen Brückenabriß einer größeren Talbrücke. Ein Umweltverband hatte den Rückbau statt der Sprengung gefordert, um das Tal vor baubedingten Eingriffen zu schützen. Wie weit diese Forderung aus naturschutzfachlicher Sicht gerechtfertigt war, möchte ich überhaupt nicht diskutieren. Fakt ist, daß jeder Baupraktiker und auch jeder Ingenieur weiß, daß ein Rückbau einer großen Talbrücke ohne Spuren im Tal zu hinterlassen nicht geht. Die Bedenken des Ingenieurs und auch des Baubetriebs wurden weggewischt. Die Mehrkosten des Rückbaus gegenüber der Sprengung betrugen 500.000 DM, die Bauzeit des Rückbaus etwa ein halbes Jahr. Das Tal sah nach dem „Rückbau“ übrigens aus, als wäre die Brücke gesprengt worden. In Fachkreisen gingen Fotos vom Tal nach Beendigung des Abrisses rum und die Ingenieure lachten über die Blödiane von der Behörde. Der Baubetrieb, der sich auf den bautechnischen Unsinn eingelassen hatte ging übrigens pleite.

Ein tödlicher Unfall ereignete sich bei einer anderen Talbrücke. Diese mußte auch aus naturschutzfachlichen Begründungen im Freivorbau errichtet werden, einschließlich der Pfeiler. Eigentlich war das wieder ein Projekt, bei dem die Grenzen des Machbaren ausgetestet worden sind. Es gab keine sogenannte Nullvariante: Die Pfeiler doch vom Boden aus zu errichten, wurde garnicht erst untersucht. Die Bauherren wollen nie ein „Nein“ hören, und die Ingenieure wissen das. Sie werden wie Erfüllungsgehilfen behandelt, und sie sind es auch. Es gibt keine Diskussion auf Augenhöhe, weil sehr wenigen Auftraggebern tausende Ingenieure gegenüberstehen, die Aufträge brauchen.

Kürzlich lästerte Prof. Meuthen auf einer politischen Veranstaltung in Steintaleben: „Niemand hat die Absicht, den Flughafen BER fertigzustellen“. Der erste Hauptgrund für die Probleme war die Unfähigkeit der Lüftungsingenieure gegenüber den Wünschen des Architekten auch einmal „Nein“ zu sagen. Die Geometrie der Anlage ist ungewöhnlich, ihre Entrauchung entsprechend schwierig. Der zweite Hauptgrund lag in den zahlreichen Änderungswünschen des Bauherrn Wowereit, durch die das ohnehin vorhandene Chaos in der Projektstruktur immer wieder verfestigt und noch vergrößert wurde. Kamen die Ingenieure einer Lösung des Problems zumindest nahe, wurden die Geometrien wieder geändert.

Auch Architekten behandeln Ingenieure wie Erfüllungsgehilfen. Architekten werden von den staatlichen Bauherren oft gefragt, welche Ingenieure sie denn gerne hätten. Und dann taucht eine Liste der devotesten Exemplare auf, die den Gestaltungswünschen nicht im Wege stehen, die aber oft nicht in der Lage sind, das Projekt störungsfrei zu Ende zu führen. Ich erinnere mich an den Architektenwettbewerb um eine Sporthalle. Der Architekt hatte ein haustechnisches Konzept der „Betonkernaktivierung“ in die Waagschale geworfen. Auf die Frage wie das bei einem Sportboden und einer Prallwand denn gehen solle, kamen Architekt und Haustechnikingenieur ins Stottern. Es stellte sich heraus, daß der Ingenieur noch nie eine Sporthalle geplant hatte.

Ein Ingenieurthema, welches sehr brisant ist, ist das der Wärmeschutznachweise. Seit vielen Jahren werden Wärmeschutznachweise mit einer Software erstellt, deren Rechenkern im Auftrag der Bundesregierung vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik erstellt wurde. In diesem Rechenmodell werden Sonnenstrahlen, welche auf  Fenster treffen, rechnerisch als Energiegewinn berücksichtigt. Solche welche auf Außenwände fallen unlogischerweise und inkonsequenterweise nicht. Wandflächen sind viel größer, als Fensterflächen und Wände haben außerdem Wärmespeichervermögen. Selbst wenn man im tiefsten Winter an einem Sonnentag eine Südwand anfaßt, spürt man die gespeicherte Wärme.  Jeder Ingenieur mit physikalischem Grundwissen weiß, daß mit dem Rechenprogramm manipuliert und betrogen wird. Aber alle machen mit. Denn die Anwendung dieses Manipulationsprogramms wird mit staatlichem Zwang durchgedrückt.

Von einem Niedergang der deutschen Ingenieurskunst kann so pauschal nicht die Rede sein. Das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer war schon bei den Barockbaumeistern zuweilen kritisch. Es in der heutigen angeblich demokratischen Gesellschaft immer noch feudal mit kleinen absolutistisch regierenden Bauherren. Was jedoch in den letzten 30 Jahren zugenommen hat: Das Austesten von Grenzen durch Bauherren. Und nicht nur von Bauherren, sondern auch von Umweltbehörden, was jüngst den Autobau betraf. Der sogenannte VW-Skandal gehört in diese Schublade.

Man kann nicht von einer Krise des deutschen Ingenieurwesens sprechen, sondern von einer Staats- und Managementkrise, in die die Ingenieure als staatsnahe Auftragnehmer notwendig verwickelt sind. Die WELT-Überschrift hätte konsequenterweise heißen müssen: „Bau-Unglücke belegen Niedergang des deutschen Baumanagements“.

Zu meiner Jugendzeit wurde noch die Pedanterei des deutschen Ingenieurs belächelt: „Was ist der Unterschied zwischen einem amerikanischen und einem deutschen Ingenieur?“ „Der amerikanische baut das für 50 Cent, für was ein Laie einen Dollar braucht. Der deutsche Ingenieur baut das für eine Mark, wofür der Laie 50 Pfennige benötigt.