Die Weltoffenen reden über Quoten

Kürzlich führten in der Redaktionsstube der WELT zwei Journalisten ein inzestiöses Streitgespräch, welches durch zwei weitere Journalisten, Ulf Poschardt und Marcel Leubecher, moderiert wurde. Inzestiös, weil Presseleute völlig unter sich waren, sich also abgeschottet selbst befruchtet haben. Unter anderem ging es auch um ein Lieblingsthema aller Antidemokraten, nämlich um Quoten:

WELT: Ostdeutsche sind in Politik und Wirtschaft unterschiedlich stark unterrepräsentiert. Wäre eine Quote für Ostdeutsche in Dax-Aufsichtsräten ein guter Anfang?

Nikolaus Blome (BILD): Gewiss. Und die Regierung möge bitte auch beschließen, dass es ab sofort mindestens ein ostdeutsches Dax-Unternehmen zu geben hat.

Jakob Augstein (Freitag): Das ist Satire. Ostdeutsche sind keine durch Geburt oder Herkunft diskriminierte Gruppe.

Da blieb mir erstmal die Spucke weg. Es gibt immer zwei Perspektiven des Ossiseins. Eine weinerliche und eine selbstbewußte. Aus beiden Gesichtswinkeln ist Augsteins Feststellung eine intellektuelle Zumutung.

Zuerst mal die Neidperspektive. In den sechziger Jahren hing ich wie meine ganze Alterskohorte am Kofferradio und wir hörten uns zwischen der Hitparade die Stauberichte von den westdeutschen Autobahnen an. Insbesondere wenn die Ferien anfingen und die Ford- oder die OPEL-Arbeiter um die Wette nach Spanien oder Italien fuhren. 50 km Stau zwischen Schnaittach und Hormersdorf oder zwischen Estenfeld und Biebelried. Wie verheißungsvoll hörten sich die ewig wiederkehrenden Namen dieser Orte an! Und wir? Finger auf der Landkarte! Statt Englisch in der Schule eine damals völlig tote Sprache: Russisch. Russisch habe ich erstmals gebraucht, als ich 50 Jahre später in Israel war. Oder Staatsbürgerkunde, Gesellschaft für Sport und Technik mit drei Wochen GST-Lager, Übungshandgranate F1. Eskaladierwand auf dem Schulhof. Werbung für die Offizierslaufbahn. Keine Abschlußfeier nach dem Abi. Wegen „Infektionsgefahr“. Die Schulleitung war froh, daß sie uns endlich los wurde.

Im Ingenieurstudium schon wieder Marxismus-Leninismus. Im ersten Studienjahr Geschichte der Arbeiterbewegung, im zweiten Dialektischer und Historischer Materialismus, im dritten Politische Ökonomie und im vierten Wissenschaftlicher Sozialismus. Im dritten Studienjahr vier Wochen Militärlager. Im dritten und vierten Studienjahr Werbung für die Laufbahn als Reserveoffizier.  Keine Austauschprogramme mit ausländischen Unis. Dafür Studentensommer mit Erdarbeiten. Letztere wurden damals selbstverständlich noch ohne Maschineneinsatz erledigt, um die erschlafften Studiker körperlich etwas aufzumöbeln.

Ich möchte nicht wissen, was dem 1967 geborenen Jakob Augstein in seiner Jugend alles geboten wurde. Man brauchte kein Millionenerbe wie Augstein zu sein, um die Vorzüge des Westens wie Reisefreiheit und freie Schul- und Studienwahl zu genießen. Und nun behauptet dieser arrogante Lümmel, Ostdeutsche seien keine durch Geburt und Herkunft diskriminierte Gruppe. Was muß man für ein versnobter Schnösel sein, was für ein zu weich gepampertes Millionärssöhnchen, was für ein im elitären Morast verkoteter Hosentaschennazi, um so kurz und schnoddrig 28 Jahre Grenzregime mit einem Satz einfach abzutun? Das ist doch kein Mensch mehr!

Mensch, ärgere dich nicht! Denn jetzt komme ich mal von oben herab. Der aus einer gestörten Beziehung stammende Jakob hatte es als Kuckuckskind von Martin Walser ja auch nicht leicht. Wahrscheinlich war seine Geburt ein Meilenstein bei der Entfremdung Rudolf Augsteins von Jakobs Mutter. Rudolf Augstein war der Mann, der den SPIEGEL vom Bademantel aus regierte. Ein Scheidungskind ist immer irgendwie geschädigt. Jakob Augstein ist leider auch ein durch Herkunft diskriminiertes Persönchen. Da hilft eine Erbschaft von 160 Millionen auch nur bedingt. Und er hat aus seinen Wahlmöglichkeiten nichts gemacht. Er studierte Politik und Theaterwissenschaft. Das ist zu weit unten, das kann ich nicht abwertend kommentieren, da habe ich nur noch Mitleid. Schluchz.

Jakob Augstein befand sich auf der westlichen Seite der Welt, die etwa 10 % der Weltbevölkerung ausmachte, und scheinbar grenzenlos war. 90 % lebten in beschissenen Ländern wie China, Rumänien, Indien, der Sowjetunion, Ägypten, Nordkorea, Venezuela, Afghanistan, Haiti, Nigeria, der DDR, Burma, Albanien, Somalia oder Kuba. Entweder sie waren direkt hinter Stacheldraht verwahrt oder sie konnten wegen Armut nicht aus ihrem Kral entkommen. Als DDR-Insasse kennt man sich in den Lebensbedingungen der Dritten Welt aus, was auch etwas wert und als Bildungserlebnis einfach unersetzlich ist. Augstein hat dagegen die Schokoladenseite der Welt kennengelernt und hält sich für weltläufig. Länder wie die DDR hat er allenfalls besucht, wie man einen Zoo besichtigt. Wenn überhaupt.

Nein, Herr Augstein, nicht die Kaffeearomen in den Redaktionsstuben der Weltpresse, auch nicht der Rauch von Peter Stuyvesant, sondern das was hinten runterfällt, das ist der Duft der großen weiten Welt. Wer San Francisco, Paris, London, das hochehrwürdige Christeaneum in Hamburg (sein altsprachliches Gymnasium) oder die Toskana mit der Welt verwechselt, der verwechselt das Sommerfest in der Gated Community mit dem Schrei der Wildnis.

Die NGO-Expads in 3-Sterne-Hotels, die TeddybärwerferInnen auf deutschen Bahnhöfen, die Besucher von internationalen Klimakongressen sind deshalb moderne Spießer, weil sie sich den gesellschaftlichen Normen, die in Hollywood, in Redaktionsstuben oder vom Spekulanten Soros formuliert werden, bedingungslos anpassen. Sie haben das Traumschiff – oder Raumschiff? – der westlichen Welt nie wirklich verlassen. Und sie wissen es gerade deshalb nicht zu schätzen. Sie sehnen sich nach der Romantik von Ouagadougou oder Kuala Lumpur und wollen diese abenteuerliche Obsession anderen Leuten aufnötigen.

„Weltoffenheit“ ist verlogen und war immer schon eine Mogelpackung. Ein einziges Mal, im August 1973 wurde der Jugend der DDR Grenzenlosigkeit vorgegaukelt. Natürlich hinter dem obligaten und streng bewachten Stacheldraht. In Ostberlin fanden die Weltfestspiele der Jugend statt. Während die Jugend der Welt in Arbeitslagern, Bergwerken und auf Feldern schuftete, trafen sich die Natschalniks zum Sich-selber-feiern. Der Verfasser dieser Zeilen war zeitgleich im Studentensommer gerade dabei, Tankwälle in Schwedt an der Oder zu schippen. War ehrlicher, als an der zurechtgeputzten Lüge der „Weltoffenheit“ in Ostberlin teilzunehmen. Der Liebe Gott läßt den gehirnamputierten Verwendern dieses Worts beim Jüngsten Gericht gewiß die Zunge herausfallen. Plums.