Das KZ als Geisterbahn

Der Zentralrat der Juden hatte den Vorschlag gemacht, daß alle Schüler der oberen Klassen mal ein KZ besuchen sollen. Ohne die Einbettung so eines Besuchs in eine ehrliche NS-Analyse, ohne fundierten Geschichtsunterricht, nutzt das wenig bis überhaupt nichts.

Ich schreibe das aus eigener Erfahrung. Als Weimarer Schüler war ich fast jedes Jahr mit der ganzen Klasse auf dem Buchenwald. Sei es ein Fahnenappell zum Thälmann-Geburtstag, zum Thälmann-Todestag oder die Komplettierung der Personenstaffage bei einer Jahrestagsfeier der Selbstbefreiung des Lagers – immer waren die Weimarer Schulen dabei.

Das Hauptproblem: Die Besuche waren in dicke Lügen eingebettet. Die stanken so zum Himmel, daß selbst pubertierende Schüler nichts mehr glaubten. Zur damaligen Zeit, also in den 60ern bis 80ern galt die Faschismus-Definition von Georgi Dimitroff, die er auf dem XIII. Plenum der Kommunistischen Internationale im Dezember 1933 vorgebetet hatte: Er war die „terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. „Bürgerliche Demokratie“ und Faschismus seien zwei verschiedene Ausprägungen des Kapitalismus, die Herrschaftsform würde je nach Lust und Laune von der Kapitalistenklasse ausgetauscht. Diese Vorgabe war so haarsträubend, daß ich hier auf eine Widerlegung verzichte. Damals wurde sie deshalb nicht geglaubt, weil sie im Westradio und im Westfernsehen nicht vorkam.

Das zweite Glaubwürdigkeitsproblem verursachten die aus dem Westen anreisenden Ehemaligen des KZs. Sie zogen zu den Jahrestagen immer ihre Sträflingskleidung über und standen in geordneten Reihen, also quasi im Appell, um den Reden des SED-Politbüros oder des ZKs zu lauschen und zu applaudieren. Die Partei instrumentalisierte die Leute als nützliche Idioten, um ihre Herrschaft zu untermauern und auf den Neonazismus in der BRD, den angeblichen Revanchismus (das auch noch zur Willy-Brandt-Zeit), die rechten SPD-Führer, den Sozialdemokratismus und die „Bonner Ultras“ rhetorische Raketen abzufeuern. War schon etwas schräg, in ein mit Stacheldraht umwehrtes Land zu fahren, um das Einreißen des Lagerstacheldrahts zu feiern. Im Grundsatz war das Prinzip von Buchenwald auf ein ganzes Land ausgedehnt worden. War die Feier vorbei, verdrückten sich die Exhäftlinge wieder in die warm geheizte Hölle des neofaschistischen Teufels.

Der Volksmund weiß bei Ambivalenzen Rat. Unten in der Stadt gab es einen „Platz der 56.000“ mit einem Denkmal des Antisemiten Thälmann. Der wurde „Platz der Vielzuwenig“ genannt. Die Auflösung dieses Spruchs ist zweideutig, weil es wegen des Weiterbetriebs des Lagers nach 1945 mögliche Interpretationen gibt. Jeder konnte sich vorstellen, was er wollte. Das ist eine notwendige Begleiterscheinung von Rede- und Denkverboten, von Tabus.

Nun werden einige hundertprozentig Überzeugte der Frau Merkel sagen: Heute ist doch alles ganz anders. Einerseits schon. Der Stacheldraht ist weg, und diejenigen, die nichts verstanden und das Politbüro beklatscht haben, sind tot. Andererseits kommt man jedoch auf das Definitionsproblem des Nationalsozialismus zurück. Das ist ungelöst, vielleicht will das die Verwurschtelung aus Medien und Regierung auch gar nicht wirklich klären.

Aus Interesse habe ich mal ins Geschichtsbuch meines Jüngsten reingesehen. In meinem eigenen Lehrbuch aus den späten 60ern waren es die Weltwirtschaftskrise und das reaktionäre Monopolkapital. 30 Jahre später war es nur noch die Weltwirtschaftskrise. Ein Minimalkonsenz. Auf mehr konnte man sich im Thüringer Bildungsministerium nicht einigen, egal ob die CDU oder die SPD den zuständigen Minister stellte. Der Übergang von der Weimarer Republik zum Dritten Reich nahm etwa eine Seite ein, inbegriffen die Illustration. Die Kulturrevolution des Spätkaiserreichs und der Weimarer Republik: Der Neue Mensch, der Übermensch, der vorherrschende Antiparlamentarismus und Antikapitalismus der geistigen Eliten, der virulente Führerkult, die Kriegsbegeisterung von Bertold Brecht, Käthe Kollwitz, Walther Rathenau, Johannes R. Becher, Thomas Mann, Lyonel Feininger, Kurt Tucholsky, Alfred Döblin und den ganzen weiteren Ikonen der „Weimarer Demokratie“ werden systematisch totgeschwiegen, die Geschichte begradigt. Kein Wort vom blutrünstigen Futurismus, keine Erwähnung des nicht ganz astreinen Expressionismus, auch der zum Wahn gesteigerte Männlichkeitskult, der gerade im Bauhaus kulminierte, ist es nicht Wert thematisiert zu werden. Typisch Elite: irgendjemand wird immer hochgeheipt: Damals der Mann, heute die Frau, morgen die Transe. Irgendjemand ist an allem schuld: Damals die Juden, heute die Rechtspopulisten, morgen vielleicht die Autofahrer.

Uneingebettet in eine kulturhistorische Erklärung ist der Besuch eines KZs einfach nur bizarr wie die Fahrt durch eine Geisterbahn oder der Trip durch den Ego-Shooter. Diejenigen, die Juden ins Gas haben wollen, könnnen vor Ort anschaulich lernen, wies gemacht wird.

„Und könn´ses nicht schildern, dann bring`ses in Bildern“. So beschrieb Otto Reutter im November 1926 die Sprachlosigkeit der Pseudoeliten.