Alles wiederholt sich – auch Zwangsdemos

1971 Weimar

Die Kampagne gegen den sogenannten „Sozialdemokratismus“ hatte ihren Höhepunkt erreicht, als die Weimarer Werktätigen den ersten Mai 1971 als Kampftag der Arbeiterklasse feierten, so die Sprachregelung des Ostberliner Wahrheitsministeriums. Der erste Mai begann alljährlich mit dem Sammeln an vorbestimmten Stellplätzen und dem Streit darüber, wer die Spruchbänder und Fahnen tragen sollte.

Da gab es so eine wunderschöne jüdische Anekdote, die allerdings ein paar Jahre jünger ist. Genosse Rabinowitsch soll am Ersten Mai das Plakat mit dem Porträt von Parteichef  Tscherneko tragen. Er weigert sich mit der Argumentation: „Letztes Jahr habe ich Andropow getragen: Er ist im selben Jahr gestorben. Vorletztes Jahr habe ich Breshnjew getragen: Er ist im selben Jahr verstorben“. Darauf seine Kollegen: „Genosse Rabinowitsch, du hast goldene Hände!“

Wenn Fahnenträger und Spruchbandträger bestimmt waren, setzte sich der Zug sehr langsam in Bewegung und kam immer wieder ins Stocken. Dieses stop and go dauerte bis zum Erreichen der Karl-Liebknecht-Straße (im Voksmund wegen der rußgeschwärzten Fassaden „Gaskammer“ genannt). In dieser Straße bekam der Umzug regelmäßig das Rennen. Die Reihen rissen auseinander, es entstanden Lücken und man erreichte den Goetheplatz, wo links die Tribüne aufgebaut war. Die 100prozentigen blickten nach links zur Tribüne und winkten dem Kreisleiter, dem Genossen Gerhard Gramm und seinem zahlreichen Gefolge zu, der von der Tribüne huldvoll zurückwinkte. Nach dem Passieren der Tribüne kam man in die Heinrich-Heine-Straße, wo der Zug sich auflöste. Auflösen ist gut, während der Zug in den sechziger Jahren noch geordnet 500 Meter weit bis zum Sophienstiftsplatz kam, erreichte er in den Achtzigern nur noch mit Mühe die Löwenapotheke kurz hinter der Tribüne. Fahnen und Spruchbänder wurden noch in Sichtweite der Tribüne eilig hingeschmissen oder an die Hauswände gedonnert und die Demonstranten entfernten sich unauffällig und rasch zu den Bratwurst- und Bierständen.

Es sah in der Heinrich-Heine-Straße so aus, wie nach einer FFF-Demo. Sammler von Fahnen und Spruchbändern wären sicher auf ihre Kosten gekommen, aber es gab keine Liebhaber, da an Fahnen und Sprüchen ein absolutes Überangebot herrschte. Neben der Tribüne auf dem Goetheplatz gab es Revolutionsfolklore. Ein Sprecher stand an einem Mikrofon und las unentwegt etwa folgenden Text:

„Wir begrüßen die Genossenschaftsbauern der LPG „Ulrich von Hutten“, die ihren Plan bereits zum 30. April mit 41,4 % erfüllt haben. An der Spitze marschiert die Brigade Schweineproduktion, die hohe Leistungen im Plan Wissenschaft und Technik bei der Einführung der neuen automatischen Rübenhacken in die Produktion erreicht haben. Wir danken den Werktätigen der Brigade für ihre hohen Leistungen, die nur unter Anwendung neuester sowjetischer Erfahrungen erreicht werden konnten, hoch lebe die deutsch-sowjetische Freundschaft, sie lebe hoch, sie lebe hoch, sie lebe hoch…..Wir begrüßen die Werktätigen des VEB Dreikäsehoch, die hohe Leistungen bei der Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen Käsesorten erbracht haben. Zusätzlich zum Plansoll wurden im Rahmen der Konsumgüterproduktion täglich 2 Blumenampeln produziert. Die Brigade unterstützt den Freiheitskampf des chilenischen Volkes mit einer Spende von 144 Mark. Hoch lebe die antiimperialistische Solidarität, sie lebe hoch, hoch, hoch. Wir begrüßen die Schüler und das Lehrerkollektiv der Pestalozzi-Oberschule. Zu Ehren des soundsovielten Plenums der Partei der Arbeiterklasse haben die Schüler der Klasse 7a 3,7 Tonnen Altpapier gesammelt. Der Erlös wurde für das Pfingstreffen der FDJ in Berlin zur Verfügung gestellt…“

So berauschte sich der Redner stundenlang an Erfolgen. Kein Betrieb, der nicht auf irgendeinem Gebiet die Welt gerettet hatte. Kein Schweinehirte und kein Müllwerker, der nicht sowjetische Erfahrungen genutzt hatte. Beim Rollen der Aschenkübel gab es den Kreuzgriff und den Schlenkergriff. Letzterer beruhte auf einem Neuerervorschlag aus Aschabad (Hauptstadt einer Sowjetrepublik an der Grenze des Iran).

1971 wurde experimentiert. Gegenüber der Tribüne befand sich die Eingangstreppe der Hauptpost mit einem ausreichend großen Podest. Hier wurde meine Schulklasse in Stellung gebracht. Ein Genosse von der Kreisleitung – das Berufsbild nannte sich Instrukteur, auf deutsch: Unterweiser – mit einer Flüstertüte hatte mit uns wochenlang Sprechchöre eingeübt. Wenn er mit der Flüstertüte zu schreien anfing mußten wir im Chor die beiden Sprüche rufen: „Wir fordern von dem Willy Brandt, die DDR wird anerkannt“ und „Freundschaft zur Sowjetunion ist Ruhm und Ehre der Nation“.

Immer wenn der Redner von der Tribüne mal kurz Luft holte, fing unser Schreihals auf der Posttreppe die beiden Sprüche an zu schreien und wir riefen es ihm nach. Das ganze sollte natürlich spontan wirken, also so als Volkes Stimme. Nach etwa zwei Stunden hatten die von der Tribüne unser dünnes Gepiepse satt, und bestellten die Sprechchöre von der Posttreppe einfach ab. Der Heini mit der Flüstertüte war ziemlich deprimiert. War er nicht gut ? Hatte er was falsch gemacht? Hatte er die Ohren der gegenüberstehenden Genossen beleidigt?

Insgeheim dachte ich: Hoffentlich ist Willy Brandt nicht so blöd, die DDR anzuerkennen. Und er hat mich nicht enttäuscht. So weit runter wie 1988 unter Hans Jochen Vogel war die SPD 1971 eben doch noch nicht.

Unnötig zu bemerken, daß eine Horde pubertierender Schüler auch vor 50 Jahren anderes im Kopf hatte als den Kampf gegen eine politische Partei hinter dem Stacheldraht. Sobald der Dödel von der Kreisleitung sich wegdrehte, machten wir üble Witze, ließen die Plastiktüten von der Verplegung fallen, schäkerten mit den Mädchen und unterhielten uns über die aktuellen Hits. Ich habe mal gegoogelt. Das waren Hey tonight, Rose Garden,  Chirpy, Chirpi, Cheep, Cheep und Hot love.

 

2019 Dasselbe in Grün

 

Finde den Unterschied:

Auf den ersten Blick ist alles gleich geblieben. Auf den zweiten gibt es einen Unterschied. Früher wäre man mindestens von der Schule geflogen, die Eltern hätten den Job verloren, wenn man einem Westjournalisten ein Interview gegeben hätte. Heute ist es mit einem ernsten Gespäch und ein paar schlechten Zensuren wahrscheinlich abgehandelt.

 

Beitragsbild: Der Weimarer Park nach der FFF-Demo