Klein aber fein: Blühende Landschaften und ein fremdgehender erfolgreicher Herrscher der Aufklärung

Ketzerische politische Gedanken beim Durchwandeln der Wörlitzer Gärten an der Elbe von Helmut Roewer

In diesem Beitrag beschäftige ich mich mit dem geradezu revolutionären politischen Wirken eines grandios erfolgreichen Fürsten, nämlich Leopold dem Dritten von Anhalt Dessau, und den Lehren, die aus seinem Erbe zu ziehen sind.

Eins

Am Anfang war der Katalog. Cranach im Gotischen Haus in Wörlitz. Mich lockte der Cranach sowie der Umstand, dass solche Ausstellungskataloge oft meisterliche Bildreproduktionen enthalten und – kaum ist das Ereignis, dem sie gewidmet waren, vorüber – erstaunlich billig zu haben sind. Ich wurde nicht enttäuscht.

Auch sonst entsprach das Buch in erheiternde Weise dem Erwarteten: Protzige Vorworte und langstielige, fußnoten-gesprenkelte Texte, die man nicht liest. Immerhin, soviel wurde klar, dass dort an der Elbe, nicht weit von Dessau und von Wittenberg in einem ausgedehnten Park ein Gartenhaus stehen müsse, in dem rare Kunstwerke im Original zu sehen sind. Auch diese Annahme erwies sich als zutreffend.

Zwei

Ich wundere mich, wie oft ich auf der A 9 in den letzten 30 Jahren an dem gleich näher zu schildernden Wörlitz an der Elbe vorbeigefahren bin, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Denn, in der Tat, es ist von der Abfahrt Coswig, südlich der Elbebrücke, nur ein Katzensprung, dann ist man an Ort und Stelle.

Meine Anfahrt an dem Juni-Wochenende erwies sich als Teil-Flopp, denn vom doppelten Grund dieses Trips erwies sich Nummer eins als ein Schlag ins Wasser. Ganz wörtlich, denn das Molière-Stück „Der Bürger als Edelmann“ auf der Freilichtbühne im Wörlitzer Park fiel bei strömendem Regen aus. Das war ärgerlich genug, denn ich bin nun mal ein Fan des Landestheaters von Dessau, das mich in den letzten Jahren in seinem städtischen Stammhaus kaum einmal enttäuscht hat, wenn ich auf einen Sprung dort Halt machte. Alles dort wirkte auf mich, als sei in erfreulicher Weise die Zeit stehen geblieben. Kein Regie-Theater – nirgends. Und ein Othello erst: richtig fett und von Hause aus ein echter Mohr, die Stimme ölig, einfach zum Umhauen.

Nun gut, jetzt also kein Molière und auch kein Lully, auf dessen dreiste Musik ich mich gefreut hatte. Ich nutzte das Zwangs-Nichts für einen ausgiebigen Spaziergang im Regen, betrachtete den Eingang zum Nichtereignis und wandte mich mit dem Kirchturm als Wegweiser wieder der Stadt zu. Die Kirschallee verzögerte den Schritt. Dann verlief ich mich an der Rückseite der Stadtgärten, die eifersüchtig jeden Zutritt Richtung Bebauung verhinderten, sah auch viel Runtergekommenes aus Jahrzehnten und setzte mich unter die Arkaden des Wörlitzer Hofes. Eine gute Wahl. Ebenso der Vesperteller mit ortsansässiger Rot-, Knack- und Kümmelwurst. Wie schon meine Danziger Großmutter sagte: Man muss es mögen, sonst isst man’s nicht gern.

Drei

Das Frühstück im Wörlitzer Hof verdient diesen Namen und verdient zudem jegliches Lob. Es ist die Grundlage für einige Anstrengung, die dem Gast bei der Suche des Gotischen Hauses abverlangt wird, denn nirgends in den weitläufigen Park- und Gartenanlagen und den zwischenliegenden Feldern ist es ausgeschildert. Das ist nicht ohne Reiz, denn es gibt zwar kunstvolle Sichtachsen (wenn man es weiß), aber diese führen auf geradem Wege nirgendwo hin, denn diese, die Wege, sind allenthalben durch Wasserläufe unterbrochen. Und das Gelände ist recht groß und unübersichtlich.

Vom Schloss aus gesehen, aber zu Fuß von dort unerreichbar und auch sonst kaum zu finden: das sorgsam nicht-ausgeschilderte Gotische Haus (Prospektbild der FremdenverkehrsStiftung).

Hinter einem üppigen Gebüsch findet sich schließlich das gewünschte Gemäuer. Ein paar Pfauen hocken träge herum, aber derentwillen waren wir nicht hermarschiert. Die Kassa liegt durchaus nicht am Zugang zum Haus, und so traben wir hinter Frau Schulz her, die den Schlüssel in der Hand hält. Vor dem Betreten der Räume ist Schuhe-putzen angesagt, was durchaus nötig aber gottlob ein Apparat erledigt. Die Zimmer sind viel kleiner, als nach den Bildern im Katalog zu vermuten. Dafür sind die aufgehängten Bilder zum Staunen. Sie übertreffen jede Erwartung. Da hängen sie dicht bei dicht, die beiden Cranachs, Memling und was man sonst so als Illustrationen in Büchern über die Reformationsepoche im Kopfe haben mag.

Hier hat einer wie ein Berserker gesammelt. Dieser Eine war der regierende Fürst Leopold der Dritte von Anhalt Dessau. Er nutzte das ursprünglich als Gärtnerhaus vorgesehene Gebäude nicht nur als private Galerie, sondern auch als Wohnquartier für seine bürgerliche Geliebte – eine von mehreren –, mit der er – und nicht nur mit ihr – eine Reihe von Kindern zeugte. Was seine Frau dazu meinte, werden wir noch sehen.

Um es gleich zu sagen: Die anderthalb Stunden in den Räumen des Gotischen Hauses vergehen wie im Flug, dann tritt plötzlich ein Grad der Sättigung ein, der jedes weitere Verweilen sinnlos erscheinen lässt, weil sich sonst die Eindrücke verwischen. Ein Eindruck, der untilgbar zurückbleibt, folgt aus einer Spezialität der Ausstellung: Man hat die Hängung der Bilder demjenigen Zustand nachempfunden, der dem vor dem großen Abhängen während des Zweiten Weltkriegs entspricht. Zunächst kamen die Bilder von der Wand, um sie vor Kriegsschäden zu schützen, später kamen sie nicht wieder daran, weil sie von den Befreiern 1945 gestohlen wurden. Sie wurden durch Schwarz-weiß-Fotos in der Originalgröße ersetzt.

Unsere Führerin nimmt, nachdem wir uns ein wenig berochen haben, kein Blatt vor den Mund. Die wertvollsten Stücke hängen in der Eremitage in St. Petersburg, einige tauchten auf einer privaten Auktion in Spanien auf. Hehlerware. Das Land bemühte sich um Rückkauf. Einiges kam aus Russland zurück. Was? frage ich. Sie zeigt auf eine Vitrine mit Scherben. Immerhin, so stellen wir fest, ist es das reine Wunder bei all dem Vandalismus, der über das Land hinweggetost ist, dass die Glasmalerei der Fenster weitgehend unbeschädigt blieb.

Vier

Nachdem ich soviel Widersprüchliches von dem Verursacher dieser Schätze-Anhäufung gehört habe, bin ich überzeugt, dass ich etwas Typisches von diesem Leopold für meine KitschSammlung erwerben kann. Eine Mini-Büste oder ein Schloss Wörlitz als Schüttelglas oder so, damit meine häuslichen Besucher was zum heimlichen Aufregen haben. Aber ach, da gibt es im ganzen Laden des Schlosses, zu dem wir eigens hingepilgert waren, nichts dergleichen. Der etwa 80 cm hohe Gipsabdruck eines pinkelnden Herakles erscheint mir etwas zu üppig, und ein Relief des englischen Diplomaten Hamilton an diesem Orte nicht gerade typisch.

Doch dann werde ich tief unten auf einem Regal bei einem Sonderangebot fündig. Es sind die lexikongroßen zweibändigen auf Kunstdruckpapier edierten Tagebücher der Fürstin Louise von Brandenburg-Schwedt, der Ehefrau des Fürsten Leopold, um den sich hier alles dreht. Die Bücher sind im Schuber, und sie sind verschweißt. Ich frage an der Kasse, ob der angegebene Preis von neun Euro ernst gemeint sei. Ist er. Ich kaufe die Bücher unbesehen. Einige Broschüren über Leopold und seinen Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff runden den Kaufrausch ab. Schwer bepackt verlassen wir das Schloss.

Nein, die auf ersten Blick skurril erscheinenden Tagebücher zu erwerben, erweist sich nicht als Fehlkauf. Zwar sind sie mit ihren drei Kilo als Bettlektüre ungeeignet, aber es entspinnen sich sogleich Debatten rund um ihre Notate, denen prachtvolle Bilder von Angelika Kaufmann, der erfolgreichsten Malerin ihrer Zeit, beigegeben sind, vor allem aber über ihren Mann, der alles andere tat, als seine Frau zu lieben, aber immerhin zwei Kinder mit ihr zustande brachte. Mit anderen Frauen hatte er jeweils mehr. Ich erwähne diesen Umstand, weil Leopold insofern nichts anderes war als ein Abbild seiner Zeit, in der absolute Herrscher sich nichts dabei dachten, mit den Frauen, die sie liebten, Kinder zu zeugen, und mit derjenigen, die ihre Ehefrau war, wenigstens den besitzerhaltenden Thronfolger in die Welt zu setzen. So auch Leopold. Seine Tragik war, dass der Thronfolger vor dem Vater starb, sodass die weitere Erbfolge der Dessauer anders geregelt werden musste. In puncto Frauen war er ganz das Kind seiner Zeit, ich sagte es
schon. Doch im übrigen…

Leopold stellte als Herrscher all die anderen Dinge auf den Kopf, die zu seiner Zeit üblich waren, oder: noch üblich waren, wie man es genauer formulieren müsste, denn er war stilbildend sowohl auf künstlerischem wie auch auf politischem Gebiete. Darüber ist nunmehr zu sprechen, denn ich habe vor, einige Lehren aus seinem Tun zu ziehen.

Fünf

Die Dessauer waren selbständige Reichsfürsten. Der Beginn ihrer Souveränität war erst jüngeren Datums. Das Land an der Elbe, über das sie geboten, war geradezu lächerlich klein (rund 700 qkm mit 35.000 Einwohnern). Ihr bedrohlichster Nachbar war Brandenburg-Preußen, dem sie einige Generäle stellten. Der bekannteste von ihnen war der Alte Dessauer. Ich nehme an, dass die Anhaltinischen durch solche Dienstleistungen der Vereinnahmung gegensteuerten.

Der dritte Leopold, von dem hier die Rede ist, trat scheinbar in die Fußstapfen seiner Väter, doch der Jüngling, der sich bei Beginn des Siebenjährigen Krieges in Friedrichs des Zweiten Hauptquartier meldete, hielt es im Soldatenrock nicht allzu lange aus. Sein Abschied wurde ihm gnädig gewährt, so dass er erst mal auf Kavalierstour durch Europa gehen konnte, von jeglichem Kanonendonner weit entfernt. Er nutzte seine Zeit und bildete sich, wie man damals sagte.

Der Erfolg solchen Bemühens lag nicht zum wenigsten an einem anderen Bildungswilligen, dem vier Jahre älteren aus dem Dresdner obersten Dienstadel stammenden Freiherrn Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff. Er wurde der Baumeister und vermutlich weit darüber hinaus der Ideenspender für den jungen Fürsten. Der hatte nichts Geringeres im Sinne, als die Aufklärung in seinem Land einzuführen. Die Grundlagen hierfür spendeten die in Italien längst wiederentdeckten Lehren der klassischen Antike. Beide nahmen zudem Maß an den italienischen Bauwerken der Renaissance, die ebenfalls ein da capo der Klassik darstellten.

Dass und wie das gelang, war nicht zum wenigsten einem anderen Deutschen, dem in Rom wirkenden Archäologen Johann Joachim Winckelmann geschuldet. Wie kaum ein Zweiter beeinflusste der mit seinen Lehren von der Antike die aufkommende Rom-Besoffenheit nördlich der Alpen. Heutige Gelehrte sind sich einig, dass der Meister einem fundamentalen Irrtum unterlag, als er dekretierte, dass die Bauten und Monumente der Alten in Athen und Rom von strahlendem Weiß gewesen seien. Witziger Irrtum, der die folgenden zwei Jahrhunderte prägte.

Wie dem auch sei, es war Erdmannsdorff, der in der Herrschaft des Dessauers munter zu Werke ging und beim Bau des Wörlitzer Schlosses das erste einschlägig klassizistische Gebäude in Deutschland schuf. Geht man etwas näher ran, wundert man sich, wie klein es ausgefallen ist. Nun gut, das Land zu dem es gehörte, war auch nicht besonders bombastisch. Unzählige weitere Gebäude und ausgedehnte Gartenanlagen sollten folgen. Nicht nur in Dessau und Wörlitz.

Sechs

Heutzutage gilt es als ausgemacht, dass Friedrich der Große der Monarch der Aufklärung gewesen sei. Der Zeitgeist widerspricht, denn an dem Preußenkönig ein gutes Haar zu lassen, verbietet die antifaschistische Mär vom Führer-Vorgänger auf dem Preußenthron. Doch lassen wir den Blödsinn mal beiseite, dann stellt sich die Situation so dar, dass Leopold in Vielem dem großen Friedrich weit voran war, was die Aufklärung anbelangt.

Während es Friedrichs Großtat war, dass in seinem Land jeder nach seiner Fasson selig werden sollte, setzte Leopold definitiv auf eine Kombination aus Bildung und Arbeit. Das klingt etwas schräg und wird erst dann deutlich, wenn man sein Bestreben betrachtet, dass jeder in seinem kleinen Anhalt-Dessau einer Arbeit solle nachgehe können, die ihren Mann ernähre. Er war der Auffassung, dass dies nur dann gelingen könne, wenn jedermann ausreichend gebildet sei, um diese Möglichkeit ergreifen zu können. Dazu gehörte der allgemeine Unterricht für Knaben und zu diesem – mens sana in corpore sano (ein gesunder Geist in einem gesunden Körper) – das Schulturnen. Heute (noch) selbstverständlich, damals kaum zu glauben.

Entsprechend seinem Bildungsideal gestaltete Leopold seinen Besitz. Er sollte für jedermann zugänglich sei. Also waren seine Parks keine solchen, sondern offene Gärten, und seine Gebäude waren zu betreten. Das war eine unerhörte Neuerung. Sie wurde von Schulen und speziell von einer technischen Schule in Dessau flankiert, in der wir einen Vorgänger der jetzigen BauhausHochschule erblicken können. Leopolds Credo war die Nützlichkeit. So baute er, und so ließ er seine landwirtschaftlichen Musteranlagen gestalten. Wenn man es mit anderen intellektuellen Vordenkern und kulturellen Trendsettern seiner Zeit vergleicht, war dieses das eigentlich Neue, dass er einen Ausgleich von Schönheit und Nützlichkeit herzustellen suchte, wobei im Zweifel die Nützlichkeit den Ausschlag geben sollte. Damit war er seiner Zeit weit voraus. Anders als andere Monarchen, hielt er sein Geld beisammen, bedachte sich sorgsam, was er seinen Untertanen an Ausgaben zumuten durfte und wirtschaftete in seinem eher bescheidenen Land so erfolgreich, dass Geld für seine Bau-, Garten- und Sammel-Spleens in der Kasse war. Die Anlagen von Wörlitz geben ein beredtes Zeugnis hiervon.

Bei deren Betrachtung geht mir durch den Kopf: In den hundert Jahren später kreierten und heute immer noch gefeierten Ideen des Bauhauses ging es nur noch um Zweckmäßigkeit. Der Neue Mensch in seiner Wohn- und Arbeitszelle. Da war die Schönheit perdu – bürgerliches Mobiliar von vorgestern.

Sieben

Nicht ohne Wehmut betrachten wir heute dieses kleine Reich, in dem – so sagt es die Überlieferung – die Vernunft zu Hause war und das Wohlergehen seiner Bewohner zuvörderst im Blick des Monarchen. Wir stellen Spekulationen darüber an, ob klein aber fein dafür vernunftgesteuert nicht doch mehr sexy ist als groß und protzig, erkauft vom Schuldenmachen der Herrschenden auf Kosten der Bürger und von der Kulturlosigkeit seiner sog. Eliten. Hätte ich die Wahl, sie fiele mir nicht schwer.

©Helmut Roewer, Juni 2023