Der Stacheldraht ist der Unterschied

Am 9. November ist der 24. Jahrestag der Grenzöffnung. Anlaß um an einen Unterschied zwischen damals und heute zu erinnern, den manche Nörgler vergessen haben.
Ich wohnte vor 1990 nicht im Tal der Ahnungslosen und konnte immerhin ARD und den Deutschlandfunk empfangen. Auch den Hessischen Rundfunk und den Bayrischen. Mir war klar: In der täglichen Tagesschau von 15 Minuten Dauer kann man die Welt nicht erschöpfend erklären. Und es gibt in Deutschland mehr zu kaufen, als in der Werbung gezeigt wird. Ich dachte, daß es einen ganzen verborgenen Planeten von Produkten, Leistungen, Informationen und Meinungen gibt, alles jenseits des Westfernsehens. Und ich dachte, daß es hinter dem Stacheldraht und hinter der Parallelwelt der Medien Marktwirtschaft und Freiheit gibt. Und Pluralismus.

Dann öffnete sich der Stacheldraht und ich fuhr Anfang November nach Franken. In Ludwigsstadt stieg ich erstmals in der freien Welt aus dem Trabant. Es war alles ganz nett und ordentlich. Statt großer Kaufhäuser, Kinos und Banken gab es zwei Supermärkte, einen Papierladen, eine Kneipe und eine Dorfbank. Keine Lichtreklame wie am Piccadilly Circus. Aber auch nicht die Welt aus der Sicht des Neuen Deutschlands mit rumlungernden Rauschgiftsüchtigen, auf der Straße liegenden Spritzen, Prostituierten und Bettlern. Oberfranken, dachte ich mir. Wenige Tage später fuhr ich nach Waldeck-Frankenberg. Wieder alles sauber und aufgeräumt, eine Tankstelle mit blau beleuchteter Bandarole. Aber auch das war nicht der Duft der großen weiten Welt. Die Frankfurter nennen das Hessisch-Kongo. An einer Schule sah ich ein Halbrelief aus den sechziger Jahren. Es sah aus wie gleiche Kunstwerke in der Stalinallee, nur daß Hammer und Sichel fehlten. Mir ging langsam auf, daß ich mein Weltbild korrigieren mußte. Es war alles viel ähnlicher als vermutet. Nur etwas besser lackiert war der Westen. Die Wessis hatten nicht die Russen als „Freunde“ gehabt, sondern die Amis.

Es begann der Alltag des vereinigten Deutschlands. Die Freundin hatte ein Architekturbüro eröffnet. Eines Tages hielt sie eine Honorartafel in der Hand. Dutzende Vergütungstabellen für Architektenleistungen. Ungläubig hielt ich das Ding in der Hand. Wo war denn Angebot und Nachfrage? Wie funktionierte die marktgerechte Preisbildung? Architektur war ein exterritoriales Gebiet der Marktwirtschaft. Nach und nach merkte ich, daß das ganze Land aus solchen sozialistischen Inseln im Meer der Marktwirtschaft bestand. Oder besser: die Inseln waren zu planwirtschaftlichen Kontinienten zusammengewachsen, zwischen denen marktwirtschaftliche Pfützen für Handwerker, Händler und Gastwirte übriggeblieben waren. Zunächst waren es Inseln der Seligen, denn die Tafelwerte der Honorartafeln sicherten ein gutes Auskommen, solange bis die Aufträge knapper wurden. Das Geld tröstete über den fehlenden Kapitalismus hinweg. Nach einem Jahr fragte ich mich, warum keine Aufträge von Privatleuten eingingen. Die Staatsaufträge machten gut 99 % des Umsatzes aus. Ich erklärte mir die Welt damit, daß die Leute im Osten so arm sind. So stand es jeden Tag in der Zeitung. Ich wußte noch nicht, daß sie im Westen und in ganz Europa genauso arm sind.

Im Osten konnte man in der Russenzeit aus 16 Baustoffen alles bauen: Wasser, scharfer Sand, Schmiersand, Kies, Zement, Kalk, Asbestzementplatten, Ziegel, Gasbetonsteine, Hohldielen, Holz, Doppel-T-Träger, Rundstahl, Rippenstahl, Dachziegel, Spaltklinker. Die Gebäude sahen danach aus. Ich dachte, daß nach 1990 mit mehreren tausend Baustoffen eine Zeit der stilistischen Pluralität anbrechen würde. Es war aber gerade die auslaufende Postmoderne in Form der Dreieckszeit angesagt. Die staatlichen und privaten Auftraggeber wollten nichts anderes. Kurze Zeit später war das als Investorenarchitektur verschrien und es begann die Bauhaus-Viereckszeit. Pluralität? Fehlanzeige! Die Architekten glotzten in die Fachzeitschrift „Detail“ und machten nach wie die Affen. Und gewannen einen Wettbewerb nach dem anderen damit. Anpassung an den staatlichen Monopolgeschmack war das.

Ich ging an Zeitungskiosken vorbei. Eine bunte Vielfalt von Titeln. Bei genauem Hinsehen Enttäuschung. Die Nuancen waren schon da, aber die meisten Themen ein mainstream-Einheitsbrei. Über bestimmte Sachverhalte hat keiner geschrieben. Die Zeit der politischen Korrektheit war angebrochen. Und es gab noch kein Internet, um das zu kompensieren. Damals wußte ich nicht, daß hinter den vielen Titeln eine Presseagentur und wenige Chefredakteure stehen.

Durch die Vereinigung des Demokratischen Aufbruchs mit der CDU landete ich in der CDU. Wenn es einen Ort gibt, in dem nicht über Politik gesprochen wird, dann ist es diese Partei. Bei Kreisparteitagen wurden die Redebeiträge der Mitglieder während der Stimmauszählung zugelassen, wenn alles durcheinanderlief. Inzwischen habe ich mitbekommen, daß es eigentlich in allen Parteien so läuft.

Als Reaktion auf diese Zustände wird in vielen Blogs von der EUdSSR und von den Blockparteien der Nationalen Front geschrieben. Es gibt viele Parallelen zwischen Moskau und Brüssel, aber die direkte Gleichsetzung mit der Russenzeit ist nicht gerechtfertigt. Die Geschichte reimt sich, aber sie widerholt sich nicht. Es gibt zwei wesentliche Unterschiede. Vor 10 Jahren begann der Siegeszug des Internets. In Hunderten Blogs können Bürger ihre Einträge, Meinungen und Kritiken ins Netz stellen, ohne daß ein Chefredakteur oder die Partei zensieren können. Wenn es einem trotzdem zu blöde wird, kann man die Koffer packen und ausreisen. Der Stacheldraht ist weg. Das war der größte Fortschritt der deutschen Geschichte der letzten 100 Jahre. Mehr kann man von einer Revolution eigentlich nicht erwarten.