Die Lehren der DDR wurden nicht gezogen

Der britische Historiker und Autor Timothy Garton Ash erwarb sich bei der Ruinierung des sozialistischen Systems im Osten gewisse Verdienste. Er war als Wanderer zwischen den Welten in den achtziger Jahren in Staaten des Warschauer Pakts oft präsent, wenn sich Abweichler trafen und gab ihnen als Ausländer durch seine Anwesenheit einen gewissen Schutz. Seine Publikationen gaben den Westeuropäern elementare Einblicke in das Vorhandensein und die mühevolle Arbeit der damaligen Opposition hinter dem Eisernen Vorhang.

Um das Jahr 2000 herum hielt er auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung einen Vortrag im Haus der Frau vom Stein in Weimar. Das Thema seines Vortrags ist mir entfallen, die anschließende Diskussion drehte sich um die 68er Bewegung als Reaktion der jungen Generation auf den Nationalsozialismus. Ich konfrontierte ihn damals mit der Vermutung, daß es auch eine Reaktion auf den Stalinismus geben werde, wenn die Zeit reif ist.

Ungläubiges Staunen. Garton Ash war von dem Gedankenspiel sichtlich fasziniert, ein Aha huschte über sein Gesicht, er lächelte milde, überlegte eine Weile und äußerte dann seine Zweifel an meiner These. Nein, eine rechte Reaktion auf den Sozialismus werde es voraussichtlich nicht geben. Sein Hauptargument: Die Jugend würde immer links ticken.

Sicher gab und gibt es gute Gründe, die den Professor zweifeln ließen. Jeder Diskurs von deutschlandweitem Interesse wurde damals von der Systempresse und dem Lügenfernsehen monopolistisch beherrscht und gesteuert und in diesen Medien saßen die triumphierenden Sieger der 68er Revolte, die ihre Sicht auf die Dinge mit Klauen und Zähnen verteidigten. Um die Jahrtausendwende konnte sich das deutsche Volk gegen die Medienzaren kaum wehren, denn das Internet steckte noch in den Kinderschuhen.
Wenn ich meine Meinung gegenüber Ash damals hätte begründen wollen, so hätte ich nur auf mein Gefühl verweisen können. Aber das Gefühl kann trügen und Hoffnung hält manchmal zum Narren.

Interessant mal die Reaktionszeit der 68er auf Adolf zu berechnen. Wie lange hat es zwischen dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und 1968 gedauert? Es sind 23 Jahre. Wenn man ab dem Jahr 1990 dieselbe Dauer dazurechnet, kommt man auf 2013, das Gründungsjahr der AfD. Dabei erfolgte die Gründung dieser Partei in einem politisch vorbereiteten Umfeld, das sich im Internet schon lange formiert und informiert hatte.

1997 ging die „Junge Freiheit“ ins Netz, freilich immer noch mit ihrem verwirrenden Namen, aber inhaltlich bereits konsolidiert. 1998 gründete André Lichtschlag die libertäre Zeitschrift „eigentümlich frei“, die seit 2006 auch im Internet als Blog präsent ist.  2004 war bereits die islamkritische „Achse des Guten“ von Broder, Maxeiner und Miersch auf Sendung gegangen, gleichzeitig das radikal-demokratische „Politically Incorrect“ von Stefan Herre. 2006 kam der liberale Blog „Zettels Raum“ dazu und Hadmut Danisch veröffentlichte seinen ersten Blogbeitrag mit wissenschaftskritischem Inhalt. 2007 gründete sich das Europäische Institut für Klima und Energie e. V. 2008 kam die eurokritische Plattform mmnews dazu und 2011 der medienkritische Blog „Journalistenwatch“. Gleichzeitig schossen im Gefolge der Bankenkrise eurokritische Wirtschaftsblogs wie Pilze aus dem medialen Boden. Im Gründungsjahr der AfD 2013 gab es im Internet bereits ein lebhaftes medienkritisches Echo auf die vermeintlich alternativlose Lügenpresse und die in ihrer Hand befindliche Kanzlerin. Freilich dauerte es eine ganze Weile, bis sich die oben genannten Blogs mit der AfD arrangierten. Meilensteine der Selbstfindung und Neudefinition waren die Demo der Hools in Köln, die Spaziergänge von PEGIDA und die auf die Meinungsfreiheit zielende Erschießung der kommunistischen Schmierfinken von Charlie Hebdo.

Nun darf man natürlich auch daran zweifeln, daß die Gründung der AfD eine Reaktion auf 1990 war. Bei der ersten Parteiveranstaltung im Taunus hat sicher niemand an das Ende des Stacheldrahts gedacht. Im Westen ist die Gründung der AfD ganz sicher eine Replik auf 1968 gewesen. Im Osten ist sie beides: eine späte Antwort auf alle 1990 nicht gestellten und nicht beantworteten Fragen sowie eine Abwehrreaktion des Volks auf die grünen Überflieger, die in den 90ern wie die Heuschrecken einfielen.

Sehr zur Überraschung des Parteigründers Bernd Lucke lag die AfD bei der Bundestagswahl 2013 im Osten deutlich über 5 %, im Westen deutlich darunter. Das Tal der Ahnungslosen an der polnischen Grenze war der beste Resonanzboden der neuen Partei. Das verunsicherte ihn. Es war klar, daß die Ostverbände die nationalen Themen, die aus der Epoche von 1945 bis 1990 resultieren, in den Vordergrund stellen würden. Lucke wollte sich mehr mit der Verteilung von Ressourcen innerhalb der EU beschäftigen, für die Ostverbände war das seit Anfang 2015 ein absoluter Nebenkriegsschauplatz. Sie hatten die Weltpolitik im Blick. Asien, Amerika, Afrika, Australien. Obama, Putin, Erdogan, Einwanderung, Kriminalität. Lucke hatte noch das Pech, daß zuerst Landtage in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gewählt wurden und die Ostverbände deshalb zuerst über Ressourcen und Ansehen verfügten. Petry, Höcke und Gauland hatten mit weltpolitischen Themen nach den Wahlerfolgen Gewicht in der Partei.

Die wichtigste 1990 nicht gestellte Frage ist die nach der nationalen Identität, denn die Hauptlehre aus der untergegangenen DDR ist die Erkenntnis, daß Fremde ihre eigene Kultur importiert und aufgenötigt haben, die ganz Osteuropa und den Osten Deutschlands substanziell zerstört hat. Wenn es nur das Saufen gewesen wäre! Die orthodoxen Russen hatten ihr seit den Zaren tradiertes Konzept der allgemeinen Eigentumslosigkeit nach Europa verschleppt und verursachten von Tallin bis Budapest einen wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang ohnegleichen. Dieses Desaster befürchten die Menschen mit der derzeitigen Einwanderungswelle wieder. Wer kann ihnen das verdenken oder verübeln?

Statt die demütigende Fremdherrschaft aufzuarbeiten wurde 1990 von den deutschen Leitmedien nationale Nabelschau betrieben und das Innenleben der SED seziert. Allerdings mit den Nebelkerzen des Datenschutzes, so daß es niemandem weh tat. Honecker und seine lila Kuh entkamen. Statt mit den ausländischen Verursachern des Desasters beschäftigte man sich sehr oberflächlich mit den deutschen Kollaborateuren und Türzuhaltern. Alles war nur Ablenkung. Fernsehen und Presse hatten die „Aufarbeitung“ in der Hand und gingen jeder vernünftigen Analyse aus dem Weg. Das rächt sich jetzt.

Denn eine differenzierte Aufarbeitung hätte verhindert, daß in Berlin nach etwas mehr als 20 Jahren eine geschichtsvergessene und autistische Politik gegen nationale Interessen gemacht wird.

Noch ein Gedanke zur linken Jugend. Timothy Garton Ash glaubte vor fünfzehn Jahren, daß die Jugend per se links sein müsse. Für die akademische Jugend mag das weitgehend zutreffen, für die arbeitende Jugend nicht. Es war schon vor fünfzig Jahren so: Wenige Jahre, nachdem die Jugendlichen das Bildungssystem hinter sich gelassen hatten, wurden sie vernünftig. Die heutige Revolution wird von den 30- bis 50jährigen angeführt. Wahlanalysen bestätigen das.

1989 war das übrigens auch so. Bei einer Demo vor der Kreisverwaltung in Weimar hatten die sogenannten „Werktätigen“ den Sprechchor „Macht sie warm, die Faultierfarm!“ angestimmt. Ein parr Schüler riefen sofort ängstlich: „Keine Gewalt“. Das war zwar lächerlich, aber typisch.