Nee, Könige waren wir nicht!

Hannes Stein hat in der WELT vom 18.09.2019 eine neue Königstheorie ausgebrütet, warum wir Ossis Nazis sind. Die fragile Verelendungstheorie mit dem „Abgehängtsein“ hat er endlich vom Sockel gestürzt, aber die Ersatzerklärung zieht mir erst recht die Socken und die Stirn kraus.

Stein hat in der fraglichen Zeit, über die er philosophiert, wahrscheinlich keinen Fuß in die Zone gesetzt. Er ist auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs aufgewachsen. Ob es die hellere Seite war, daran bekommt man den einen oder anderen Zweifel, wenn man seinen Eintrag liest:

„Es ist heute beinahe vergessen, aber innerhalb des Ostblocks waren DDR-Bürger Könige. Wenn Ungarn die fröhlichste Baracke im sozialistischen Lager war, so war die Baracke mit dem Hammer, dem Zirkel und dem Ährenkranz mit Abstand die reichste. DDR-Deutsche konnten sich mehr leisten als die Bulgaren, Ungarn, Polen, um von den armen Rumänen ganz zu schweigen. Sie waren auch wohlhabender als die Bürger der Sowjetunion. (…)
Dissidentenfreunde wie Jürgen Fuchs haben mir erzählt, daß 1981 – zu Hochzeiten der Solidarnosc-Bewegung in Gdansk und Gdynia – keineswegs Solidarität das vorherrschende Gefühl in der DDR-Bevölkerung war. Stattdessen kursierten Sprüche wie: „Die faulen Polen sollen endlich wieder arbeiten!“ (Natürlich wurden solche Sprüche vom Regime kräftig gefördert.) Mit anderen Worten: Die DDR-Bevölkerung fühlte sich gegenüber den anderen Ostblockinsassen privilegiert und hatte auch allen Grund dazu. Und im Unterschied zur offenen Gesellschaft gleich nebenan, in der längst und selbstverständlich Hunderttausende Türken, Griechen und Italiener lebten, war die DDR ein ethnisch homogenes Biotop.“

Soweit der Dummschwafler Stein. Er zieht daraus den abenteuerlichen Schluß: Die DDR-Bürger hätten sich gegenüber den anderen Ostvölkern als Könige gefühlt. Und dieser Effekt wäre mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entfallen, was die Ossis zu Nazis machte. Toll!

Könige sehen anders aus. Sie werden nicht eingesperrt. Neben den Sowjetvölkern, den Rumänen, den Albanern und den Nordkoreanern waren wir die Eingesperrtesten von allen. Für Polen, Tschechen, Ungarn, Slowaken, Kroaten, Serben, Slowenen und Montenegriner war es deutlich leichter rauszukommen. Sie bedauerten uns deswegen. Ihre Stacheldrahtzäune waren vor allem wegen uns gebaut worden. Für sie war eine Ausreise vor allem davon abhängig die Fahrt nach dem Westen finanzieren zu können. Sie standen weniger vor politischen, als finanziellen Grenzen. Sachsen, Thüringer, Brandenburger, Mecklenburger und Franken durften nur nach der eingezäunten CSSR, dem verdrahteten Ungarn, Rumäníen und Bulgarien fahren, 1972 bis 1980 auch nach Polen. Organisierte Reisen gab es in die SU. Einige Abenteuerfans sind mit Transitvisen auch ohne Begleitung bis auf den Pamir vorgedrungen.

Wie man sich im Ausland gefühlt hat? 1982 und 1983 war ich mit meiner Freundin zweimal nach Ungarn gefahren. In Budapest fühlten wir uns recht klein. Ich habe hier mal ein zeitgenössisches Video eingestellt, um das Raumgefühl zu demonstrieren.

So muß sich Goethe in Rom gefühlt haben. Als Provinzler zwischen riesigen Bauten, die man in den 80ern wegen allgemeinem Mangel weder in Ostberlin noch in Budapest aufführen konnte. Dafür daß wir in Ungarn nicht übermütig geworden sind sorgten folgende Umstände: Umgerechnet 35 Mark mußten pro Tag als Budget reichen. Die Ungarn fragten ständig ob wir Kelet- oder Nyugatnémetek (Ossis oder Wessis) seien. Da wurde einem mindestens einmal amTag bedeutet, daß wir zweite Wahl waren.  Die guten Ungarn verachteten uns deswegen nicht, sondern hatten Mitleid. Noch heute nach 40 Jahren ist der Ossi in Ungarn beliebter, als der Wessi oder der Ösi. Und wir hatten damals permanent Hunger wie die Wölfe. Wenn keine Jugendherberge zur Verfügung stand, mieteten wir Privatzimmer. Da lernte man die Ungarn kennen. Deren Lebensumstände unterschieden sich von unseren kaum, außer daß sie besseres Wetter hatten.

Sicher, meine polnischen Freunde haben mir später erzählt, wie sie während des Kriegsrechts barfuß zur Schule gingen, weil es keine Schuhe mehr gab. Aber das wußten wir in den 80ern nicht so detailliert, weil die Lügenpresse nicht darüber berichteten durfte oder wollte. Und weil wir nicht mehr hinkonnten. Auch das Westfernsehen hat das mit Rücksicht auf den Sozialismus vertuscht. Es war schon bekannt, daß es den Polen schlechter ging, aber wir sahen mit Bewunderung auf die Gewerkschaftsbewegung dort. Jeder dritte Jungspund ließ sich in den 80ern einen Schnurrbart wachsen, weil Walesa auch einen hatte. Es gab damals eine Anekdote, die die wirkliche Stimmung eingefangen hat: Fragt der polnische Hund: „Was ist eine Wurst?“ Fragt der DDR-Hund: „Was ist bellen?“ …

Der Satz „Die faulen Polen sollen endlich wieder arbeiten!“ ist so ähnlich tatsächlich gefallen. „Die sollen lieber arbeiten, die Polenschweine!“ Es war ein Genosse, der dieses Zitat bei einer Gewerkschaftsversammlung rausgeblasen hatte, die wegen der Streiks in Danzig angesetzt worden war. „Störungen im Arbeitsrythmus“, hieß das im „Neuen Deutschland“. Natürlich hatte die Partei ein lebhaftes Interesse Polen herabzusetzen, das war eine Messer- und Gabelfrage. Es war allen – Freund und Feind – klar: An dem Tag, an dem Warschau fällt, stürzt Ostberlin und damit das sozialistische Schweinesystem. Wir Jungingenieure sangen nach der Versammlung recht laut auf dem Gang neben dem Veranstaltungsraum „Jeszcze Polska nie zginęła“. Zu deutsch: Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben. Die Genossen konnten kein Polnisch. Das war ganz gut und sparte Ärger.

Das ethnisch homogene Biotop ist genauso eine freie Erfindung. In der DDR befanden sich etwa 1,5 Millionen Angehörige der Sowjetarmee, darüber hinaus hunderttausende Vertragsarbeiter aus Mozambique, Algerien und Vietnam. 1988 hat mir ein Genosse im Rat des Kreises Weimar zu meiner Verwunderung folgendes Gedicht vorgetragen:

Überall sind Russen,
Neger sitzen in den vollen Bussen.
Und ein Vietnamese kauft den letzten Käse.

Ich weiß nicht, ob das eine Provokation der Staatssicherheit war, um mich zu notierenswerten Äußerungen zu verleiten oder ob ich mir das unbegrenzte Vertrauen des Mannes erschlichen hatte. Reicht diese Poesie nicht als Beweis, daß wir nicht ganz alleine waren? Der letzte Käse ist diese Behauptung, die DDR hätte Ausländer nicht gekannt. Man hat sie nur in sehr schlechter Erinnerung. Ein Freund, der jetzt in Hamburg lebt, hüstelte immer künstlich, wenn Sowjetmenschen in der Nähe waren. So beliebt waren die damals. Auch weil die Matkas in den Geschäften gern mal die Ellenbogen rausfuhren, wenn es was gab.

Der Blick auf die Sowjetunion war sehr ambivalent. Man wußte schon wie schlecht es unsern Unterdrückern ging.  Aber das sahen wir als gerechte Strafe für ihren Hochmut. Denn alle zehn Meter hing ein Schild: „Freundschaft zur Sowjetunion ist Ruhm und Ehre der Nation“ oder „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“. Selbst der Erste Sekretär mußte den Steigbügel des niedersten Abgesandten des Großchans küssen, wie es Karl Marx einmal drastisch formuiert hatte. Königtum oder Vasallentum?

Die Königstheorie ist das Absonderlichste, was ich in unserer bewegten Zeit gelesen habe. Einfach satt irre! Diese plumpen Versuche uns zu ergründen und die Geschichte nachträglich zu bereinigen sind einfach nur peinlich. Königtum behaupten ist so wie Auschwitz leugnen.

Wir Ossis sind wirklich nicht wegen lost Kingdom sondern aus ganz anderen Gründen Nazi! Es gibt Anti-Euro-Nazis, Anti-Islam-Nazis, Anti-GEZ-Nazis, Volksentscheid-Nazis, Diesel-Nazis, Frauenrechts-Nazis, Israel-Nazis, Kernkraft-Nazis, Anti-EEG-Nazis und viele Nazis mehr. Braunes Buntland…

Ich kann nicht wirklich entschlüsseln, warum die Wessis solche kolossalen Gestalten wie Herbert Grölemeier, Heiko Maas, Guildo Horn oder Hannes Stein hervorgebracht haben. Das müssen diejenigen klären, die vor 1990 im Westen gewesen sind.