Die Stärke der direkten Demokratie

In den letzten Tagen gab es viele Klagen, daß die Gemeinden in die Zuweisung von Flüchtlingen nicht rechtzeitig eingebunden worden seien. Aber für alles gibt es eine Lösung. Ein Blick in die Geschichte reicht.

Die beschränkte historische Schulweisheit nimmt an, daß repräsentative parlamentarische Vertretungen in Deutschland von den bürgerlichen Ständen erkämpft worden seien. Und daß vorher die Diktatur von feudalen Fürsten herrschte. Das ist ein grober Irrtum. In Deutschland kämpfte die monarchische Obrigkeit gegen hinhaltenden Widerstand der Untertanen um die Abschaffung der direkten Demokratie und für die Einführung der repräsentativen Demokratie.

Anhand der Kommunalordnung des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach läßt sich das exemplarisch nachvollziehen. Am 28. März 1840 erschien im Regierungsblatt für das Großherzogthum die Bekanntmachung der neuen Gemeindeordnung. „Auf höchsten Befehl Sr. Königlichen Hoheit des Großherzogs, wird die nachstehende, mit dem getreuen Landtage verabschiedete allgemeine Landgemeinde-Ordnung hierdurch zur Nachahmung öffentlich bekanntgemacht.“

„In der Erwägung, daß eine wohlgeordnete Verfassung der Gemeinden im Staate die Staatsverwaltung selbst erleichtert und unterstützt, zugleich aber die Wohlfart der Unterthanen befördert, glauben Wir einem wesentlichen, auch von den Ständen des Großherzogthums wiederholt anerkannten Bedürfnisse abzuhelfen, indem wir die in einigen Theilen des Landes noch bestehenden mangelhaften und sehr verschiedenartigen Rechts- und Verwaltungsverhältnisse der Landgemeinden durch eine allgemeine Landgemeinde-Ordnung zu regeln beschlossen haben.“   

Der Sinn der neuen Kommunalordnung war es, die Zusammentritte der traditionellen Gemeindevollversammlung der männlichen Nachbarn durch ein repräsentativ-parlamentarisches Gremium, den Gemeindevorstand zu ersetzen. Zunächst teilweise nach der sogenannten Salami-Taktik. In der Kommunalordnung von 1840 heißt es:

„Die Vertretung der Gemeinde und die Besorgung ihrer Angelegenheiten geschieht in der Regel durch den Ortsvorstand. Eine Versammlung der Ortsnachbarn ist nur noch zulässig und deren Schlußfassung erforderlich:
1) zur Verkündung der Gesetze und Verordnungen, auch obrigkeitlicher Befehle, soweit letztere die Gesamtheit der Gemeinde angehen;
2) zur Vorlesung der Gemeinderechnung;
3) zur Wahl der Gemeindevorsteher;
4) zur Aufnahme nicht heimathsberechtigter Fremder in die Reihe der Nachbarn;
5) wenn neue oder erhöhete Gemeindeleistungen oder eine veränderte Umlage derselben beschlossen werden sollen;
6) wenn ein Verzicht auf Rechte oder Befugnisse, welche bis dahin in der Gemeinde zum Privat=Vortheile benutzt werden durften, zu Gunsten der Gemeinde in Frage steht;
7) wenn Grundstücke auf Rechnung der Gemeindekasse durch Kauf, Tausch oder andere Weise erworben oder veräußert werden sollen;
8) wenn über die Frage, ob ein Neubau auf Kosten der Gemeinde vorzunehmen sey, zu beschließen ist;
9) wenn es sich um die Aufnahme solcher Darlehen handelt, welche nicht von den Einkünften des laufenden Jahrs wieder gedeckt werden;
10) in allen Fällen, wo die Aufsichtsbehörde eine Vernehmung und Schlußfassung der Gemeinde selbst ausdrücklich vorschreibt“.

Auch nach dieser geänderten Ordnung waren die Befugnisse der Gemeindeversammlung aller Nachbarn wesentlich größer als im heutigen Rechtssystem. Eine Landgemeinde war ein Zusammenschluß auf Gedeih und Verderb. Jeder Einwohner und Nachbar mußte beim Wegebau, bei der Feuerwehr, beim Heben der Gräben, beim Management von Stürmen, Hochwassern, Kältewellen und Seuchen funktionieren. Nur gemeinsam konnten die Einwohner mit beschränkten technischen Mitteln alle Probleme meistern. Drückeberger und Faulpelze konnte man überhaupt nicht gebrauchen. Darum mußte die Aufnahme Fremder in die Gemeinde durch die Gemeindeversammlung beschlossen werden. Es wurden Zeugnisse von den Herkunftsgemeinden der Zuzügler angefordert und ausgewertet. Die Zuwanderer mußten Angaben über ihr Vermögen machen, damit sie den Einheimischen nicht zur Last fielen.

Im Angesicht heutzutage chaotischer Zuwanderungsregeln erscheint die Verfahrensweise von 1840 vorbildlich. Mit persönlicher Vorstellung der Zuwanderer und Abstimmung der Einwohner über die Aufnahme in die Gemeinde ließe sich die pauschale Ablehnung von Zuwanderern durch die Einwohner vermeiden. Wenn Zuwanderung eine Bereicherung ist, so wird sie auch nicht abgelehnt werden. Wenn man in die Gemeindearchive der Zeit um 1850 hereinschaut, so stellt man fest, daß tüchtige Neubürger immer willkommen waren. Denn die Gemeindelasten verteilten sich dann auf mehr Schultern.

Seit unvordenklicher Zeit tradiert war in den deutschen Gemeinden die Vollversammlung der männlichen Einwohner und Nachbarn. Diese Versammlung, heute natürlich auch unter Einschluß der weiblichen Einwohner, wäre die richtige Körperschaft, um Aufnahmen von Zuwanderern zu beschließen und damit die direkte Demokratie wieder zu verankern.

Die Einwohner in der Mitte des 19. Jahrhunderts waren hartgesottene Anhänger der direkten Demokratie. Sie hatten überhaupt keine Lust Entscheidungen an ein gewähltes Gremium, also den Ortsvorstand abzugeben. Die direkte Demokratie zu zerstören dauerte mindestens ein Vierteljahrhundert.