Rußland nach Putin

1913 erschien in Deutschland ein ins Deutsche übersetztes Buch von Fürst Grigorij Trubetzkoi „Rußland als Großmacht“. Der Fürst war zu dieser Zeit im russischen Außenministerium in der Nahostabteilung beschäftigt, war also  mit den außenpolitischen Denkweisen der Führungsschicht vertraut. Damals beschäftigten ihn das deutsch-britische Mißverhältnis, der Panslawismus und die damit verbundene Polen- und Balkanpolitik, Großbritanniens Interessen in Persien und Tibet, die Bündniskonstellation in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, die Türkei und Japan. China und die Vereinigten Staaten nahm er als militärisch und politisch unbedeutend wahr. Rußlands Aufmerksamkeit war zwischen Europa und Asien geteilt.

Nun sind über 100 Jahre vergangen und Deutschland, Österreich und Japan sind politisch und militärisch nicht mehr existent. Geblieben sind das von ihm beklagte Mißverhältnis zu Polen und die Spannungen mit der Türkei. China und die Vereinigten Staaten haben sich zu Weltmächten entwickelt. Was aber im auf sich selbst bezogenen Deutschland nach wie vor unterschätzt wird: Rußlands aufmerksamer Blick nach Süden und Osten. Wenn es nach Westen sieht, dann zunächst auf Deutschlands Geld, weshalb Nordstream 2 errichtet wird.

Fürst Trubetzkoi hob hervor, daß Modernisierungsbemühungen in Rußland immer nach Niederlagen erfolgt seien: Nach dem Krimkrieg und nach dem Russisch-japanischen Krieg. Und man kann ergänzen: Nach dem Afghanistan- und dem Ersten Tschetschenienkrieg. Es waren die Stunden von Michael Gorbatschoff und Wladimir Putin. Bereits Generalsekretär Gorbatschoff hatte mit dem Abräumen des Eisernen Vorhangs eine grundlegende Voraussetzung für die Modernisierung der russischen Armee geschaffen, indem der Wissens- und Technologietransfer vom Westen nach Jahrzehnten der Isolation ermöglicht wurde. Aber jeder Umbau beginnt mit häßlichen Abrißarbeiten, bei denen das Gebäude beschädigt wird und wo ärgerliche Bauzustände unumgänglich sind.

Rußland warf Anfang der 90er den mittelasiatischen Ballast ab, ohne die Kontrolle über diese Gebiete ganz aufzugeben. Zahlreiche der neu entstandenen zentralasiatischen Staaten sind von Turkvölkern bewohnt: Aserbaidschan, Turkmenistan, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan. Hier macht die Türkei als Konkurrenz zu Rußland immer wieder Partnerschaftsangebote und erhebt Ansprüche. Dazu sind die im Russischen Reich verbliebenen Völker wie Tartaren, Tuwinen, Jakuten, Mordwinen, Baschkiren usw. auch Turkvölker. Das alte Problem der verwehrten Durchfahrt der Schwarzmeerflotte durch die Dardanellen ist weiter ungelöst. Kurz: Die Kontrolle über die Aktivitäten der Türkei ist nach wie vor ein zentrales Anliegen Rußlands. Den Stützpunkt im syrischen Latakia muß man vor dieser Kulisse sehen.

Japan ist an der Ostfront zwar als potentieller Gegner entfallen, China ist dafür von den politisch Toten auferstanden und sehr gut gerüstet. Der Ussuri-Konflikt 1969 hat gezeigt, daß es zwischen asiatischen Despotien ordentlich rauchen kann, auch wenn beide sich als sozialistisch definieren. Das Verhältnis zu China war selten so rational und übersichtlich, wie derzeit. Es gibt keinen Automatismus, daß das so bleibt.

Fürst Trubetzkoi beklagte 1910, daß Polen als natürlicher Pufferstaat zwischen Deutschland und Rußland nicht mehr existent war. Rußland würde den Polen zu wenig Freiheit lassen und sie damit rußlandfeindlich konditionieren. Das Problem hatte sich von 1919 bis 1939 und seit 1990 als staatliches erledigt, seit 1910 gab es allerdings nur Ereignisse, die die Feindschaft noch verschärft haben: Den Ersten Weltkrieg, den Russisch-Polnischen Krieg 1920, den Stalin-Hitlerpakt, Jalta mit der Westverlagerung und die sowjetische Besatzung bis 1990.

Sicher wäre die litauisch-polnische Rzeczpospolita des 18. Jahrhunderts im Zeitalter der Schulbildung und der Nationalstaaten irgendwann im 19. oder 20. Jahrhundert auch von alleine in Teilstaaten zerbrochen, aber die Polen sehen es nicht so. Für sie und die Juden und Litauer des historischen Litwo ist es ein historischer Gewaltakt und Zeitgenossen wie Maria Theresia sahen es nicht anders. Da Deutschland sich aus der NATO faktisch verabschiedet hat, verlagern sich die amerikanischen NATO-Kontingente immer mehr nach Polen, was wegen kürzerer Vorwarnzeiten ungünstig, aber in Berlin offensichtlich gewollt ist. Vom alten Ost-West-Konflikt sind zwischen Finnland und der Ukraine viele Reste präsent.

Der Zerfall des in Trianon flüchtig und unüberlegt zusammengezimmerten Jugoslawiens kulminierte in den Balkankriegen 1991 bis 1999. Das war eine komplexe Konfrontation zwischen der orthodoxen, der moslemischen und der lateinischen Welt, die von Rußland mit Zähneknirschen zur Kenntnis genommen wurde. Serbien hat sich zwischen Europa und Rußland noch nicht entschieden.

Diese einleitenden Randbemerkungen mit flüchtigen Pinselstrichen zur Lage führen auf ein brisantes Thema: Die Zeit nach Putin. In der russischen Geschichte gab es kaum einen Regentschaftswechsel, der nicht außenpolitische Akzente verschob. Schon wenn wir in nicht allzu großer zeitlicher Distanz die Periode Breschnjeff mit der Regierungszeit Gorbatschoffs vergleichen, und diese wieder mit Jelzins oder Putins Herrschaft, so erschließt sich das auf den ersten Blick. Auch im Spatbarock war es nicht anders: Im Siebenjährigen Krieg wurde Preußen durch den plötzlichen Tod von Zarin Elisabeth 1762 gerettet, als Rußland unverhofft als Gegner ausschied.

Fürst Bismarck war um 1861 preußischer Gesandter in St. Petersburg. Sehr interessant seine Beobachtungen über die Generation Alexanders I. (Zar 1801-1825) im Vergleich zu der von Nikolaus I. (1825-1855) oder der von Alexander II. (1855-1881).

„In der Petersburger Gesellschaft ließen sich zu meiner Zeit drei Generationen unterscheiden. Die vornehmste, die europäisch und classisch gebildeten Grands Seigneurs aus der Regirungszeit Alexander’s I., war im Aussterben. Zu ihr konnte man noch rechnen Mentschikow, Woronzow, Bludow, Nesselrode und, was Geist und Bildung betrifft, Gortschakow, dessen Niveau durch seine übertriebene Eitelkeit etwas herabgedrückt war im Vergleich mit den übrigen Genannten, Leuten, die classisch gebildet waren, gut und geläufig nicht nur französisch, sondern auch deutsch sprachen und der crême europäischer Gesittung angehörten.

Die zweite Generation, die mit dem Kaiser Nicolaus gleichaltrig war oder doch seinen Stempel trug, pflegte sich in der Unterhaltung auf Hofangelegenheiten, Theater, Avancement und militärische Erlebnisse zu beschränken. Unter ihnen sind als der ältern Kategorie geistig näher stehende Ausnahmen zu nennen der alte Fürst Orlow, hervorragend an Charakter, Höflichkeit und Zuverlässigkeit für uns; der Graf Adlerberg Vater und sein Sohn, der nachherige Hofminister, mit Peter Schuwalow der einsichtigste Kopf, mit dem ich dort in Beziehungen gekommen bin und dem nur Arbeitsamkeit fehlte, um eine leitende Rolle zu spielen; der Fürst Suworow, der wohlwollendste für uns Deutsche, bei dem der russische General nicolaitischer Tradition stark, aber nicht unangenehm, mit burschikosen Reminiscenzen deutscher Universitäten versetzt war; mit ihm dauernd im Streit und doch in gewisser Freundschaft Tschewkin, der Eisenbahn-General, von einer Schärfe und Feinheit des Verständnisses, wie sie bei Verwachsenen mit der ihnen eigenthümlichen klugen Kopfbildung nicht selten gefunden wird; endlich der Baron Peter von Meyendorff, für mich die sympathischste Erscheinung unter den ältern Politikern, früher Gesandter in Berlin, der nach seiner Bildung und der Feinheit seiner Formen mehr dem alexandrinischen Zeitalter angehörte und in ihm durch Intelligenz und Tapferkeit sich aus der Stellung eines jungen Offiziers in einem Linienregimente, in dem er die französischen Kriege mitgemacht, zu einem Staatsmanne emporgearbeitet hatte, dessen Wort bei dem Kaiser Nicolaus erheblich in’s Gewicht fiel. Die Annehmlichkeit seines gastfreien Hauses in Berlin wie in Petersburg wurde wesentlich erhöht durch seine Gemalin, eine männlich kluge, vornehme, ehrliche und liebenswürdige Frau, die in noch höherm Grade als ihre Schwester, Frau von Vrints in Frankfurt, den Beweis lieferte, daß in der gräflich Buolschen Familie der erbliche Verstand ein Kunkellehn war. Ihr Bruder, der östreichische Minister Graf Buol, hatte daran nicht den Antheil geerbt, der zur Leitung der Politik einer großen Monarchie unentbehrlich ist. Die beiden Geschwister standen einander persönlich nicht näher als die russische und die östreichische Politik. Als ich 1852 in besondrer Mission in Wien beglaubigt war, war das Verhältniß zwischen ihnen noch derart, daß Frau von Meyendorff geneigt war, mir das Gelingen meiner für Oestreich freundlichen Mission zu erleichtern, wofür ohne Zweifel die Instructionen ihres Gemals maßgebend waren. Der Kaiser Nicolaus wünschte damals unsre Verständigung mit Oestreich. Als ein oder zwei Jahre später, zur Zeit des Krimkriegs, von meiner Ernennung nach Wien die Rede war, fand das Verhältniß zwischen ihr und ihrem Bruder in den Worten Ausdruck: sie hoffe, daß ich nach Wien kommen und »dem Karl ein Gallenfieber anärgern würde«. Frau von Meyendorff war als Frau ihres Gemals patriotische Russin und würde auch ohnedies schon nach ihrem persönlichen Gefühl die feindselige und undankbare Politik nicht gebilligt haben, zu welcher Graf Buol Oestreich bewogen hatte.

Die dritte Generation, die der jungen Herrn, zeigte in ihrem gesellschaftlichen Auftreten meist weniger Höflichkeit, mitunter schlechte Manieren und in der Regel stärkre Abneigung gegen deutsche, insbesondre preußische Elemente als die beiden ältern Generationen. Wenn man, des Russischen unkundig, sie deutsch anredete, so waren sie geneigt, ihre Kenntniß dieser Sprache zu verleugnen, unfreundlich oder garnicht zu antworten und Civilisten gegenüber unter das Maß von Höflichkeit herabzugehn, welches sie in den Uniform oder Orden tragenden Kreisen untereinander beobachteten. Es war eine zweckmäßige Einrichtung der Polizei, daß die Dienerschaft der Vertreter auswärtiger Regirungen durch Tressen und das der Diplomatie vorbehaltne Costüm eines Livree-Jägers gekennzeichnet war. Die Angehörigen des diplomatischen Corps würden sonst, da sie nicht die Gewohnheit hatten, auf der Straße Uniform oder Orden zu tragen, sowohl von der Polizei als von Mitgliedern der höhern Gesellschaft denselben zu Conflicten führenden Unannehmlichkeiten ausgesetzt gewesen sein, welche ein ordensloser Civilist, der nicht als vornehmer Mann bekannt war, im Straßenverkehr und auf Dampfschiffen leicht erleben konnte.“

Soweit unser Fürst über wechselnde Stimmungen in St. Petersburg. Wir stehen allerdings heute vor der Frage, wer nach Putin kommt. Wenn es nach unseren Haltungsredakteueren und -politikern geht, wäre es der Jurist Nawalny, der aber im Gegensatz zu Putin recht unausgereifte Züge hat: Neben der Ausweisung aller georgischen Staatsbürger aus Russland wollte er das georgische “Hauptquartier der Nagetiere” mit Marschflugkörpern verwüstet sehen. Abwertend äußerte er sich auch über die Lebensweise der nordkaukasischen Randvölker: “Die gesamte nordkaukasische Gesellschaft und ihre Eliten teilen den Wunsch, wie Vieh zu leben. Wir können nicht normal mit diesen Völkern koexistieren.“ Mit Russen zusammenleben, das wollten die Nordkaukasier auch nie. Es klingt bei Nawalny eine gewisse Unbeherrschtheit an, welche nicht gut zu Gesicht steht, wenn man den Kernkraftwaffenkoffer und ein multireligiöses Riesenreich maßvoll verwalten will.

Die Berliner Eliten träumen von jungen kosmopolitischen Nachfolgern Putins. Das sind jedoch Hirngespinste, die nur in der Blase innerhalb des Berliner S-Bahnrings wuchern. Wenn es in Rußland Jugendbewegungen gegeben hat, waren sie ausgesprochen reaktionär, nationalistisch, zentralistisch und rechtgläubig: Die Dekabristen ebenso wie die Sozialrevolutionäre und die Bolschewiken.  Weniger riskant wäre ein international erfahrener aufgeklärter Präsidentenmonarch mittleren Alters.

Prof. Baberowski heute in der WELT: „Als die Krim annektiert wurde, waren die meisten Russen euphorisch, begeistert. Die Stimmung war aggressiv. Wir sollten nicht vergessen, dass die Mehrheit der Bevölkerung viel konservativer als ihr Präsident ist. 2014 ist der Mann von der Masse nicht nur getragen, sondern getrieben worden. Millionen haben sich mit dem Ende des Imperiums nicht abgefunden. Wir müssen mit dieser Haltung zurechtkommen, so wie andere mit dem moralischen Imperialismus der Deutschen zurechtkommen müssen. (…) Es ist das Dilemma autoritärer Regime, dass die Regelung der Nachfolge dem Amtsinhaber schadet und Konflikte zwischen den Gruppen erzeugt. Putin muss diese Frage bis zuletzt offenhalten, wenn er nicht vor der Zeit gestürzt werden will.“

Das ist wirklich das Dilemma autoritärer Regime, in Berlin ist es nicht anders, als im Kreml.

 

 

Beitragsbild: Treffen von Alexander I. und Friedrich Wilhelm III.